Mittwoch, 25. März 2015

Die Killing Fields von Choeung Ek (Teil 10)

In der Geschichte des 20. Jahrhunderts stößt man in nahezu jedem Jahrzehnt auf von Menschen an Menschen verübte Verbrechen, im Krieg und zu Friedenszeiten. Es ist schlimm genug, wenn der Wert eines Menschenlebens nur auf dem Papier Relevanz besitzt. Schlimmer ist es aber, wenn sie offiziell von einer Ideologie als lebensunwert oder gar als Feinde der Gesellschaft in die Händen der Henker überliefert werden. Massenhaftes Morden und systematisches Totarbeiten gab es in britischen und belgischen Kolonien, zu Millionen in nationalsozialistischen Vernichtungslagern und auch in stalinistischen Gulags. Jahrzehnte nach dem Töten beginnt die Aufarbeitung jener Gleichgültigkeit, die diese Verbrechen oftmals hat geschehen lassen. Ein Ort des Gedenkens bei Phnom Penh sind die Killing Fields von Choeung Ek, denn auch Kambodscha war einst trauriger Schauplatz von zahllosen Massakern. Die Zäsur im nationalen Gedächtnis liegt noch keine siebzig Jahre zurück, viele Kambodschaner erinnern sich noch schmerzlich an die Tage des Vietnamkriegs und die Vorkommnisse dieser unübersichtlichen Zeit. Abseits der Schlagzeilen und unzugänglich für die meisten Journalisten errichteten die Roten Khmer ihr Terrorregime und gaben ihm den Titel Demokratisches Kampuchea. Unter der Führung von Pol Pot, einem gelernten Zimmermann und Privatschullehrer, ergriff die maoistisch-nationalistische Gruppe Mitte der Siebzigerjahre die Macht. Zahllose politische Gegner und jene, die das Regime als Feinde ausgemacht hatte, wurden in Lager deportiert und nicht selten umgebracht. Kambodscha hatte 1975 etwa acht Millionen Einwohner, von denen bis zu drei Millionen an den Strapazen und am Hunger während groß angelegter Umsiedlungsaktionen starben, oder in den kommunistischen Hinrichtungslagern.

Wir nehmen uns ein Tuk Tuk vom Hostel aus und brausen durch die belebten Straßen von PhnomPenh, zu den etwas außerhalb der Stadt gelegenen Killing Fields. Es geht vorbei an Autowerkstätten und durch ärmlichere Siedlungen, die sich jeweils dicht an die Hauptstraße drängen. Ab und zu führen dicke Abwasserrohre unter der Asphaltdecke hinunter zum Tonle Sap, um ihre giftige und bestialisch stinkende Mischung zuerst über die saftig grünen Reisfelder und schließlich in den Fluss zu entladen. Um unsere Motorradrikscha schwirren Mopeds und Lastwagen, irgendwann geht es aus der Stadt heraus auf eine staubige Straße in Richtung Süden und nach kurzer Fahrt kommen wir in Choeung Ek an.


Am Eingang werden wir mit einem Audio-Guide ausgestattet. Das Areal erkundet man schweigend zu Fuß, die deutsche Stimme im Ohr erzählt die Geschichte der Hinrichtungsstätte und der vielen Menschen, die in ihr umkamen. Alles ist sorgfältig aufgearbeitet. Man erfährt auch von den Anfängen der Roten Khmer und ihrem Führer, der unter der durch den Vietnamkrieg geschundenen Bevölkerung im östlichen Grenzgebiet großen Zuspruch fand. Pol Pot versprach den Menschen, die zum größten Teil in Armut lebten, vor allem Nahrung und Arbeit. In seiner Ideologie wurden die Städte als Wurzeln des Hungers ausgemacht, ihre Bewohner bezeichnete er als Parasiten. Privatbesitz wurde unter den Roten Khmer verboten und Geld abgeschafft, Religion wurde mit allen Mitteln bekämpft und Schulen wurden geschlossen. Pol Pot setzte seine Armee aus ungebildeten Bauern zusammen, unter denen er den Hass auf die Städter schüren konnte. Grausame Parolen versuchten schon am Anfang zu rechtfertigen, was später bittere Wahrheit werden sollte. Am 17. April 1975 eroberten die Roten Khmer die Hauptstadt und verschleppten daraufhin fast die gesamte Stadtbevölkerung aufs Land. Millionen Menschen in ganz Kambodscha wurden von den Machthabern entwurzelt und neuen Arbeitsbereichen im ganzen Land zugeteilt, wo sie auf den Reisfeldern arbeiten sollten. Durch die Vertreibung, das Chaos und den Hunger auf dem Land kamen Hunderttausende um. Die Getreideproduktion sollte verdreifacht werden, doch ein Großteil der Ernte wurde exportiert. Im Gegenzug erhielt die Führung Waffen und Vorräte von den Chinesen, während selbst die Arbeiter auf den Reisfeldern verhungerten. In den Internierungslagern, die übers ganze Land verteilt waren, wurden Millionen ermordet. Pol Pot war paranoid, Lehrer und Intellektuelle wurden kollektiv zum Tode verurteilt. Wer Fremdsprachenkenntnisse besaß war als Angehöriger der Bourgeoisie von vornherein verdächtig. Auch Menschen mit Brille und mit weichen Händen wurden zusammen mit politischen Gegnern zuerst in Gefängnissen interniert und dann in Lager wie Choeung Ek gebracht.


Choeung Ek war früher ein Obstgarten, auf dem Gebiet der Killing Fields befand sich ein Friedhof der örtlichen chinesischen Bevölkerung. Nach der Einrichtung des Hinrichtungslagers wurden die Ermordeten in Erdlöchern rund um die chinesischen Gräber verscharrt. An einer Stelle des Rundgangs wird an das Massengrab von 166 desertierten Soldaten der Roten Khmer erinnert. „Kambodschanischer Körper, vietnamesischer Kopf“, hieß es in der Staatspropaganda. In den Vietnamesen sahen die gleichfalls kommunistischen Roten Khmer den Feind der Stunde.


Über die Killing Fields verteilt gibt es auf 2,4 Hektar Land ganze 129 Massengräber, von denen nicht alle geöffnet wurden. Doch selbst dort, wo nur noch leere grasbewachsene Gruben den Grund durchlöchern, kommen auf den Wegen nach jedem Regenfall neue Knochen und Kleiderfetzen der Opfer ans Tageslicht. Die Stimme im Guide erklärt, man solle auf die Fragmente nicht treten und sie auch nicht aufheben. Alle paar Monate geht ein Team der Gedenkstätte über das Areal und sammelt die Überreste ein, um sie in zwei große Glaskästen zu legen.


Der Audio-Guide gibt Zeitzeugenberichte wieder von Menschen, die in Choeung Ek oder im Tuol-Sleng-Gefängnis (auch als S-21 bekannt) in Phnom Penh inhaftiert waren. Man erfährt, wie Häftlinge eigene Geschichten von nie verübten Taten erfinden und danach um Vergebung bitten mussten. „Wenn einem die Geschichten ausgingen, war die Zeit der Hinrichtung gekommen“, erzählt die Stimme eines Mannes namens Yuk. Nachts übertönten Lautsprecher mit Revolutionsliedern und das Rattern des Dieselgenerators die Schreie der Sterbenden. Zuletzt wurden auf den Killing Fields bis zu 300 Gefangene pro Tag hingerichtet.
Am Rande der Besichtigungstour steht ein alter Baum. Es ist der sogenannte Killing Tree, an den Aufseher die kleinen Kinder der weiblichen Häftlinge geschlagen hatten, bis sie tot waren. Taten, die an Grausamkeit kaum zu überbieten sind. Das Massengrab der Opfer liegt direkt daneben. An diesem Ort war der ehemalige Gefängnisleiter, bekannt unter dem Namen Duch, zusammengebrochen und hatte unter Tränen seine Taten gestanden, als er Jahrzehnte nach den Verbrechen selbst als Gefangener im Rahmen einer Tatortsichtung des Gerichts hierher gebracht wurde.


Noch im Jahre 1979 kam wenige Monate nach der Vertreibung der Roten Khmer durch die vietnamesischen Truppen die schreckliche Wahrheit ans Licht. Die Befreier fanden Grabhügel, die sich durch die Verwesungsgase gewölbt hatten. Bis heute wurden etwa 20.000 Massengräber in Kambodscha freigelegt, die meisten davon über das ganze Land verteilt in etwa 300 Hinrichtungsstätten. Es gibt auf den Killing Fields noch 40 ungeöffnete Gräber, doch der Gedenkstupa ist voll. Die Hüter von Choeung Ek, wie die Mitarbeiter der Gedenkstätte im Audio-Guide heißen, wollen die restlichen Opfer in Frieden ruhen lassen. Doch fast 9.000 Tote wurden noch 1980 der Erde entnommen und obduziert. Die Todesursachen wurden festgestellt. Was auf den Informationstafeln abstrakt dargestellt wird, kann und will man sich nicht vorstellen. Einschusslöcher im Kopf, mit Spitzhacken zertrümmerte Schädel. In der Gedenkpagode sind die Überreste der exhumierten Opfer gestapelt, auf 17 Stockwerken und sorgfältig nach Alter der Opfer angeordnet.


Aus europäischer Sicht eine etwas bizarre Art und Weise, den Ermordeten zu gedenken. Doch die Symbolik, die in der traditionellen Architektur der Pagode steckt und auch die Tatsache, dass man beim Betreten wie bei jeder heiligen Stätte in Südostasien die Schuhe auszieht, verleihen dem Ort den zu erwartenden Respekt.


Choeung Ek ist vielleicht einer der Orte wie Dachau und Auschwitz, die tatsächlich zum Nachdenken anregen. Doch wie die Stimme im Audio-Guide schon sagt: Die Verbrechen der Roten Khmer waren nicht die ersten Massenmorde der Welt und – wie uns die Geschichte zum Beispiel 1994 in Ruanda lehrte – auch nicht die letzten. In der Gedenkstätte von der Killing Fields drängt sich weniger die Frage nach dem Warum auf als vielmehr die Erkenntnis, dass es auch hier passiert ist. Während man nachdenklich zurück in die Stadt gefahren wird realisiert man, dass in Phnom Penh fast jeder Mensch über 40 in irgendeiner Weise von den Vertreibungen oder Morden durch die Roten Khmer betroffen gewesen sein musste. Die Täter von damals und ihre Taten sind bis heute in den Zeitungen des Landes präsent. Die Führungsriege der Roten Khmer wurde mit der Zeit von internationalen Gerichten unter kambodschanischem Vorsitz zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die Nachfolgeprozesse laufen bis heute. Die Anführer der Roten Khmer lebten teilweise bis in die 1990er Jahre im Grenzgebiet zu Thailand, erst 1997 wurde Pol Pot von ehemaligen Mitstreitern aus seiner Führungsposition als „Bruder Nr. 1“ verdrängt. Kurz darauf beging er vermutlich Selbstmord, ohne dass er jemals für seine Taten zur Verantwortung gezogen worden wäre.


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