Dienstag, 26. August 2014

Der Versuch eines Einblicks in die Terrorgruppe IS

Die Vorgänge in Syrien und im Irak sind brutal, die letzten überlebenden Reste jahrtausendealter Kulturen werden zerstört. In Syrien gehen die Toten seit Beginn des Konflikts in die Hunderttausende, im Irak müsste man erst den Zeitpunkt definieren, ab dem man mit dem Zählen der Opfer beginnt. Das Regime von Saddam Hussein hat laut Human Rights Watch bis zu 290.000 Menschen auf dem Gewissen. Die US-amerikanische Besatzung und die in der Folge stellenweise eskalierenden Konflikte kosteten nicht nur über 4.000 alliierten Soldaten das Leben, sondern auch das von bis zu 600.000 irakischen Zivilisten. Heute, im Sommer des Jahres 2014, findet sich das Zweistromland erneut zwischen den Fronten verfeindeter Kräfte und internationaler Interessen wieder. Doch mittlerweile hat sich ein Gegner zwischen Syrien und Irak festgesetzt, den alle Beteiligten gleichermaßen fürchten: Der selbst proklamierte Islamische Staat (IS), eine dschihadistische Terrorgruppe, erobert Städte und Dörfer im Norden des Landes, vertreibt Christen, Jesiden und Turkmenen, köpft und massakriert Zivilisten, ausländische Berichterstatter und gefangene Soldaten. Vor einigen Tagen wurde der Journalist James Foley von IS-Terroristen enthauptet. Kurze Zeit später hat die Al-Nusra-Front, eine Gruppe aus dem Umfeld des Terrornetzwerks Al-Qaida, den US-Amerikaner Peter Theo Curtis freigelassen, der seit zwei Jahren in Syrien festgehalten wurde. Was dieser Schritt gerade jetzt zu bedeuten hat, erklärt Aviv Oreg, ehemaliger Leiter der Abteilung zum Thema Globaler Dschihad bei der israelischen Armee. Er geht davon aus, dass der Zeitpunkt der Freilassung bewusst gewählt ist. „Al-Qaida hat diesen Schritt zur Freilassung von Peter Curtis unternommen, um innerhalb der islamischen Welt wieder mehr Legitimität zu erhalten“, erklärte er laut der Nachrichtenagentur dpa.  Al-Qaida will sich noch mehr vom IS abgrenzen. Es ist paradox: Knallharte Dschihadisten distanzieren sich von noch knallhärteren Dschihadisten.

Doch wer sind die Männer, die hinter der Gruppe IS (arab. dā‘isch) stecken? Und wie funktioniert dieses Netzwerk? Leider ist es den meisten Journalisten nicht möglich, vor Ort und brandaktuell Hintergrundberichte aus dem Inneren des Terrornetzwerks zu liefern. Deshalb bleibt auch mir nur übrig, mich auf all das zu stützen, was im Internet an mehr oder weniger glaubwürdigen Berichten kursiert.

Der „Kalif“

Abu Bakr al-Baghdadi al-Husseini al-Quraschi hat seinen Name treffend gewählt: Abu Bakr war der zweite der sogenannten Rechtgeleiteten Kalifen und der direkte Nachfolger Muhammads im 7. Jahrhundert. Mit dem Namenszusatz (nisbe) al-Baghdadi will er sich als einheimischen Iraker legitimieren, der Zusatz al-Quraischi weist ihn als Angehörigen des Stammes des Propheten aus, den Quraisch. Ob diese Tatsachen der Wahrheit entsprechen, lässt sich schwer feststellen. Doch es ist zu vermuten, dass die Wahl des Namens lediglich der Festigung der Macht al-Baghdadis dienen sollte. In Wirklichkeit heißt der Mann, der gerade den Nahen Osten und die Welt darüber hinaus in Angst und Schrecken versetzt, Ibrahim al-Badri und stammt aus der nördlich von Bagdad gelegenen Stadt Samarra, einem bedeutenden schiitischen Pilgerort am Ostufer des Tigris. Er studierte Islamic Studies in der irakischen Hauptstadt und war zur Zeit der US-Invasion angeblich Geistlicher in seinem Heimatort. Seit 2003 durchlief er eine Laufbahn als Kämpfer in unterschiedlichen militanten Gruppierungen, bis er bei den Vorgängern des IS landete. Seit 2010 war al-Baghdadi Chef des IS, seit Ende Juni 2014 nennt er sich offizielle „Kalif Ibrahim“. Am 29. Juni rief er bei der Freitagspredigt in der Hauptmoschee von Mossul vor sorgfältig ausgewählten Gästen das „Kalifat“ aus. Er will einen neuen islamischen Staat auferstehen lassen und momentan scheint ihn niemand daran hindern zu können.

Terroristen online - Propaganda und wertvolle Einblicke

Wertvolle Einblicke in die Welt des IS liefert eine Reportage des VICE-Magazins: In „The Islamic State“ begleitet der Journalist Medyan Dairieh die Kämpfer des IS in und um Raqqa (Syrien) und bekommt die Möglichkeit, Statements von ranghohen Führern der Gruppe aufzunehmen. Dem Zuschauer wird Einsicht gewährt in das ganze System des „Kalifats“: Dairieh besucht ein Gefängnis und den Scharia-Gerichtshof, wird Zeuge der Vereidigung neuer Kämpfer und begleitet einen IS-Funktionär bei seiner Patrouille durch die Stadt. Diese Dokumentation ist momentan die einzige, in der die Zuschauer das Innere der besetzten Gebiete zu Gesicht bekommen. Daneben bleiben nur noch die zahlreichen Propagandavideos des IS als virtuelle Quellen übrig: Paraden durch eroberte Gebiete auf weißen Geländewagen, immer dabei die schwarze IS-Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Vermummte und unvermummte Kämpfer posieren mit Gefangenen. Auf einigen Videos sind Hinrichtungen zu sehen, auf anderen rufen ausländische Terroristen ihre Landsleute in der Heimat dazu auf, dem Ruf des Dschihad zu folgen. Es existiert auch ein längeres Video, eine Produktion der Propagandaabteilung des „Kalifats“. Und am bedeutendsten ist wohl die aufgezeichnete Predigt des Kalifen Ibrahim, die er vor seinen freiwilligen und unfreiwilligen Gefolgsleuten in der Moschee von Mossul hielt, bevor er - abgeschirmt von seinen Sicherheitsleuten - wieder im Nirgendwo verschwand. Mit diesem Video appelliert er an die Muslime der Welt, seinem Ruf zu folgen und in sein Kalifat zu immigrieren. Das wichtigste Ziel des gesamten Propagandaapparates ist es, kampfbereite junge Muslime in aller Welt zu mobilisieren. Der Kampfeswille soll durch die begeisterten Zeugnisse kampferprobter Dschihadisten geweckt werden, der Alltag vor Ort wird durch diese Videos verherrlicht und die Legitimation des örtlichen Dschihad bekommt man durch die Rede des Kalifen gleich mitgeliefert. Wir sind das Kalifat und wir sind unbesiegbar. Das ist die Botschaft. Und nicht wenige ausländische Fanatiker kamen dieser Aufforderung nach: Wie schon in anderen Konflikten (z.B. Ex-Jugoslawien oder Afghanistan) kommen auch jetzt zahlreiche Muslime aus Saudi-Arabien, den Golfstaaten und auch Europa nach Syrien und in den Irak. Diese Bewegung wurde schon früh im Syrienkrieg losgetreten, als sich die Rebellengruppen gerade formiert hatten. Die europäischen Dschihadisten reisten größtenteils über die Türkei ins Kampfgebiet ein, wurden dort auf ihre Treue geprüft und an der Waffe trainiert. Seitdem tauchen Videos auf, in denen sich auch Deutsche damit rühmen, „Ungläubige“ getötet zu haben. Nach einem Bericht von n24 sollen derzeit 139 Deutsche im Kriegsgebiet kämpfen, eine große Zahl von ihnen in den Reihen es IS. Sie befeuern die Propaganda des Terrornetzwerks und ermutigen ihre Glaubensgeschwister zuhause zur Reise an die Levante. Und der Grund, wieso VICE seine Dokumentation drehen durfte, liegt auf der Hand: IS will sich der Welt präsentieren - als Kämpfer, als Sieger.
Die eigene Online-Recherche birgt aber die eine oder andere Tücke: Natürlich ist an allen Fronten und auf allen Seiten Propaganda im Umlauf. Nicht selten finden sich hier Fehler oder Falschmeldungen: Es kursierten zum Beispiel Bilder von Frauen, die vom IS angeblich in die Sklaverei verkauft wurden. Gestalten in schwarzer Burka, die Hände aneinandergekettet. Doch diese Fotos stammen vom Aschura-Ritual, bei dem Schiiten dem Tod des dritten Imams Hussein gedenken. Bilder des Aschura-Tages und der damit verbundenen Paraden, Rituale und Praktiken kennt man aus dem Iran: Männer geißeln sich selbst, indem sie sich mit Peitschen den Rücken blutig schlagen. Dazu gehören auch Frauen in Ketten, doch die haben mit dem IS in keiner Weise etwas zu tun - zumindest nicht auf den präsentierten Bildern.

Terror und Zerstörung

Inhalt der Propaganda, aber auch bittere Realität sind die Vertreibungen und die Massaker des IS an religiösen Minderheiten. Die christlichen Einwohner Mossuls wurden vor die Wahl gestellt zu fliehen, zum Islam zu konvertieren oder hingerichtet zu werden. Die Türen christlicher Haushalte wurden mit einem arabischen N (für narānī, „Nazarener“) gekennzeichnet. Sprühfarbe zur Brandmarkung. Die allermeisten Betroffenen verließen daraufhin Ende Juli 2014 die Stadt. Die christliche Gemeinde, die sich traditionell aus aramäischen, syrisch-orthodoxen und chaldäischen Gläubigen zusammensetzt, bestand seit über eineinhalb Jahrtausenden. Nun hat sie aufgehört zu existieren. Bei der Machtübernahme des IS lebten nach unterschiedlichen Angaben noch zwischen 25.000 und 35.000 Christen in der Stadt. Die meisten von ihnen sind nun auf das Gebiet der Autonomen Region Kurdistan geflüchtet. Die kurdischen Gebiete rund um Erbil und Dohuk waren auch das Ziel von ca. 200.000 Jesiden, die aus ihren Dörfern vor den herannahenden IS-Truppen geflohen waren. Unzählige Menschen verhungerten, während sie auf dem Dschabal Sindschar, einem Gebirge, festsaßen und auf Rettung warteten.
Neben der Vertreibung und Ermordung von Christen, Jesiden und Turkmenen begeht der IS auch ein unglaubliches Verbrechen am kulturellen Erbe des Irak: Aus Propagandavideos und Augenzeugenberichten geht hervor, dass die Gruppe damit begann, christliche Kirchen, aber auch schiitische Schreine und Moscheen sowie die Gräber von Heiligen oder islamischen Propheten zu sprengen. Im dogmatischen Islam ist die Verehrung von Heiligen und ihrer Gräber verpöhnt, für Dschihadisten ist sie inakzeptabel. Nun werden die eroberten Regionen nicht nur von Andersgläubigen, sondern auch von ihrem historischen Erbe „gesäubert“. Was einst die Taliban im afghanischen Bamian anrichteten, als sie die uralten Buddhastatuen sprengten, wiederholt der IS nun im Irak, einer der wichtigsten Wiegen der menschlichen Zivilisationsgeschichte.Innerhalb seines Machtbereich regiert der IS mit voller Härte. Die Gesetzgebung basiert dabei auf der individuellen Interpretation des islamischen Scharia-Gesetzeskorpus. Das „Kalifat“ soll eine Theokraie sein, die Gesetze werden auf der Straße von patroullierenden Aufsehern durchgesetzt. Im Fastenmonat Ramadan ist essen und trinken tagsüber streng verboten, Händler werden kontrolliert, Passanten im Falle eines Verstoßes gegen die Kleiderordnung gerügt. Angeblich verabschiedete der IS als erstes Regelwerk einen 16-Punkte-Katalog voller Einschränkungen, so ein Bericht des Merkur Online. Konsum und Verkauf alkoholischer Getränke oder Drogen sind verboten, gleiches gilt für das Rauchen. Das Tragen von Waffen ist untersagt, ebenso Versammlungen. Ausgenommen sind IS-Kämpfer. Frauen in den eroberten Gebieten müssen ihren gesamten Körper bedecken und optimalerweise zuhause bleiben. Das System des Islamischen Staates hat alles, was zur Aufrechterhaltung dieser neuen Ordnung notwendig ist: Gefängnisse und organisierte Gerichte mit Büros und Sprechstunden, wie sie in der VICE-Reportage zu sehen sind, existieren in jeder großen Stadt. Die Strafen für Verbrechen wie Mord oder Diebstahl sind drastisch: Dieben werden die Hände abgehackt, wegen unterschiedlichster Vergehen werden Menschen geköpft. Auch Abfall vom Glauben kann unmittelbar zum Tode führen. Es ist dabei aber nicht einmal sicher, ob sich der IS in der Durchsetzung dieser Urteile überhaupt an irgendwelchen Regeln orientiert oder ob die Scharia nur als Entschuldigung vorgeschoben wird, um Gegner gnadenlos niederzumetzeln. Laut WELT berichteten die UN unter Berufung auf Zeugenaussagen, dass im Juni in der Haftanstalt Badush ein Massaker verübt wurde. In dem Gefängnis in Mossul sollen 670 irakische Insassen hingerichtet worden sein. Es ist nur eine von vielen Meldungen über Massaker, Hinrichtungen und blutrünstige Massentötungen.

Wie finanziert sich der IS-Terror?

Wie konnte es so weit kommen? Wie wurde es möglich, dass der IS Mitte 2014 über ein eigenes Territorium von beachtlicher Größe verfügt? Dies ist neben einer politischen und militärischen auch eine finanzielle Frage, auf die es mehrere Antworten gibt: Der Islamische Staat handelt mit Rohöl und verkauft es an die verschiedensten Konfliktparteien. Große Ölfelder in Syrien, aber auch rund um die nordirakische Stadt Kirkuk gehören oder gehörten zum Machtgebiet der Terrorgruppe. Von hier aus wurden Tanklaster mit der wertvollen Ladung zum Export losgeschickt. Über die Empfänger gibt es unterschiedliche Meldungen: Das Öl werde an die iranische Grenze transportiert, hieß es. Doch vor allem der syrische Diktator Assad, der dem IS wie die meisten anderen politischen Akteure der Region als Feind gilt, soll laut taz zu den Hauptabnehmern des erbeuteten Öls gehören. Während andere bewaffnete Rebellengruppen den Rohstoff in Plastikflaschen und Kanistern über die Grenze in die Türkei schmuggeln, liefert IS im großen Stil an das benachbarte und offiziell verfeindete Regime. Aber schon vor der Eroberung dieser Ölfelder war der IS die reichste Terrorgruppe der Welt. Es ist zu vermuten, dass die Terroristen aus unterschiedlichen Richtungen große Spenden erhalten. Geld fließe vor allem aus den Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien, meldete die Tagesschau Ende Juli. Und auch Wegzölle entlang der Grenzen zwischen Irak und Syrien zählen zu den Einnahmequellen der Gruppe. Ein großer Coup gelang ihr außerdem im Juni 2014: Bei der Eroberung von Mossul fiel die Zentralbank in die Hände des IS - dabei wurden laut Washington Post ganze 425 Millionen US$ erbeutet. Die Welt hat es also nicht nur mit einer Bande von Terroristen zu tun, sondern mit einer gut organisierten Bewegung, die mittlerweile sowohl über Land als auch Geld verfügt.

Militärisch unterschätzt

Im Juni 2014 eroberte der IS - damals noch ISIS - die Metropole Mossul. Die zweitgrößte Stadt des Irak hat fast drei Millionen Einwohner und war schon 2006 Mittelpunkt der Terrorbewegung, als ISIS dort das „Islamische Emirat Irak“ ausrief und begann, die Bevölkerung zu terrorisieren. Seitdem war Mossul geplagt von Anschlägen, Entführungen und Morden an Journalisten, Frauen ohne Kopftuch oder Ladenbesitzern, die den Vorgaben der Terrorgruppe nicht Folge leisteten. Acht Jahre später ist die Stadt nun vollkommen in der Hand des IS und die Welt fragt sich: Wie konnte eine handvoll Terroristen diese große Stadt scheinbar im Handumdrehen einnehmen? Wie konnten 800 Kämpfer eine Metropole erobern, die von knapp 30.000 irakischen Soldaten verteidigt wurde? Militärexperten vermuten als Hauptursache die schlechte Ausbildung der irakischen Streitkräfte und vor allem die mangelnde Moral. Die Gründe liegen jedoch auch in der Strategie des IS, Furcht und Schrecken zu verbreiten und dafür zu sorgen, dass es sich herumspricht. Meldungen von exekutierten Gefangenen und Videos von Massenhinrichtungen untermauern die Brutalität des IS, deren Opfer jeder wird, der in ihre Hände gerät. Doch nicht nur die furchteinflößende Kriegspropaganda verhilft zum militärischen Sieg, es ist auch die Vorgehensweise an der Front: „Sturmattacken wie im siebten Jahrhundert“, titelt Spiegel Online. Modernste Kriegstaktik mischten die Dschihadisten mit apokalyptischen Angriffen, heißt es. Blitzschnell und skrupellos. „Sie kamen wie ein Schwarm, rasend, schießend, als ob nichts sie aufhalten könne“, berichtet ein kurdischer Kommandeur. Angriffe wie aus der Zeit der ersten islamischen Expansionen? Nur ohne Pferde: Auf 70 oder 80 Wagen seien sie angerast gekommen. „Sie rollten in breiter Linie durch die Wüste, Dutzende Fahrzeuge nebeneinander, und schossen dabei. Egal, ob wir einen Wagen ausschalten konnten, die anderen rasten einfach weiter“, erzählt ein weiterer kurdischer Soldat. „Sie schickten erst mehrere Selbstmordattentäter mit sprengstoffbeladenen Wagen, dann kam die Haupttruppe - und zwar so schnell nach den Explosionen, dass keiner reagieren konnte. Wer konnte, floh.“ Die IS-Kämpfer sind hoch motiviert und gnadenlos, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Dschihadisten fürchten den Tod nicht, sondern sehnen sich nach dem „Martyrium“. Und Berichte wie diese sorgen zudem dafür, dass die Moral derjenigen, die sich den Kämpfern entgegenstellen, noch weiter gegen Null geht. Die irakischen und kurdischen Soldaten fliehen vor heranbrausenden Jeeps und Pickups, auf denen Maschinengewehre installiert sind. Darunter sind dutzende Humvees: Vor ihrem Abzug hatten die US-Truppen der irakischen Armee viel Material überlassen, u. a. auch gepanzerte Fahrzeuge. Große Teile der militärischen Ausrüstung des IS stammen aus diesen Beständen, wurden schon andernorts von den fliehenden Irakern erobert. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte kämpfen nun Terroristen mit amerikanischen Waffen, rücken Woche für Woche ein Stück weiter vor und vergrößern ihr Territorium unaufhaltsam.

Kampf, Politik und aufgekündigte Bündnisse

Während in Deutschland und Europa diskutiert wird, ob man die kurdische Armee des Nordirak mit Waffen beliefern sollte, läuft den Menschen vor Ort die Zeit davon. Kurden, Jesiden, Christen - sie sind auf der Flucht. Und selbst gegen sunnitische Gruppen wendet sich der IS mittlerweile. Militärische Bündnisse sind nur so lange attraktiv, bis sie nicht mehr nützlich sind. Wer anfängt zu rebellieren, wird automatisch zum Feind und kommt unter die Räder des IS-Vormarsches. Mitte August soll der IS ganze 700 Mitglieder des asch-Scheitaat-Stammes getötet haben, nachdem es im Zuge der Besetzung mehrerer Ölfelder zu Konflikten gekommen war.
Bündnisse sind flüchtig beim Islamischen Staat. Von Beginn an war die Terrorgruppe eng mit Al-Qaida vernetzt. Als der IS noch kein Land und auch noch keinen bedeutenden Einfluss hatte, war das Terrornetzwerk um Osama Bin Laden ein wichtiger, ein unerlässlicher Verbündeter. Bis heute hat sich die Situation geändert: Erst machte sich der IS selbstständig, jetzt distanziert sich al-Qaida sogar von dieser Gruppe. Die Süddeutsche schrieb auch wieso: „Die dynamischen Emporkömmlinge lassen die einstigen Terror-Fürsten verkopft und entscheidungsschwach aussehen. Die Ausrufung des Kalifats ist für al-Qaida nicht nur eine Provokation - sie ist eine Kriegserklärung.“ Die Dschihadisten-Szene sei nicht weniger zerklüftet als andere arabische Gemeinschaften.Währenddessen macht sich in der gesamten islamischen Welt Widerstand breit: In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Erde, wurde jegliche Unterstützung der IS-Terroristen von höchster religiöser Instanz für illegal erklärt. Muslimische Gemeinden weltweit geben Erklärungen ab und distanzieren sich von diesem ungekannten Terror im Namen eines selbsternannten Kalifen.

Doch „außenpolitisch“ verunsichert der IS seine Gegner noch immer. Die USA beginnen zwar, Luftangriffe auf IS-Stellungen zu fliegen, um die kurdischen Peschmerga bei der Verteidigung der nordirakischen Städte zu unterstützen. Doch die Türkei erscheint still und passiv, fast schon eingeschüchtert. Mit gutem Grund: Im Laufe des Jahres nahmen die Terroristen 28 türkische Lastwagenfahrer als Geiseln. Und im Juni stürmten sie bei der Eroberung von Mossul auch das türkische Konsulat. Seitdem befinden sich fast 50 Mitarbeiter und Diplomaten in Geiselhaft, darunter der Generalkonsul der Türkei selbst. In den letzten Aufnahmen bei VICE gab es harte Worte vonseiten des IS an die türkischen Nachbarn. Man werde Istanbul erobern, hieß es. Ob dies eine Drohung sei? Ja, das sei eine Drohung.

IS-Dschihadisten im Nordirak: "Kämpfen bis zum Ende"
(Reuters)

Link:

Medyan Dairieh: „The Islamic State“ (VICE, Sommer 2014; englisch)


Donnerstag, 21. August 2014

Das jüdische Prag

Vor einer Woche war ich in der tschechischen Hauptstadt Prag, wo das Bier günstig ist und die Touristen zahlreich sind. In der „Goldenen Stadt“ verbrachte ich einige sonnige und auch verregnete Tage. Meiner Meinung nach ist Prag eine der schönsten Metropolen Europas, die sich nicht nur durch eindrucksvolle epochenübergreifende Architektur auszeichnet, sondern auch durch kulturelle Vielfalt. Jahrhundertelang war Prag ein Zentrum der tschechischen, deutschen und jüdischen Kultur. Komponisten wie Smetana, Schriftsteller wie Kafka und Politiker wie Václav Havel verbindet man mit Prag. Wer mich kennt, der kennt aber auch mein frühes Interesse für das Judentum und seine kulturellen und historischen Aspekte. Es ist daher fast schon eine Schande, dass ich dieser hochinteressanten Stadt nun im Jahr 2014 zum ersten Mal einen Besuch abstattete, denn Prag und das europäische Judentum gehören zusammen. Mit ein paar Bildern möchte ich Euch auf einen „jüdischen Stadtrundgang“ mitnehmen.

Nordwestlich der Altstadt liegt das Viertel Josefov, die Josefstadt. Per Königserlass wurde dieser Stadtteil im 13. Jahrhundert zum jüdischen Viertel ernannt. Von dieser Zeit an bis zur Assimilierung der jüdischen Bevölkerung am Ende des 18. Jahrhunderts war dies der Ort, an dem sich der Alltag und das ganze Leben der Prager Juden abspielten. Kaiser Joseph II. erließ im Jahre 1781 das Toleranzpatent, um 1850 wurde den Juden dann das Bürgerrecht gewährt. Den Ghettozwang war damit aufgehoben und viele Familien zogen aus der Josefstadt fort. Die meisten Synagogen und der gewaltige jüdische Friedhof aber blieben bis heute erhalten. Ebenso kann man bis heute das Jüdische Rathaus sehen, heute Sitz der tschechischen jüdischen Gemeinde.


Das wohl bedeutendste Gebäude des Viertels ist aber die Altneusynagoge. Sie ist einer der frühesten gotischen Bauten Prags und eine der ältesten noch erhaltenen Synagogen Europas. Jahrhundertelang war sie von Legenden und Mythen umwoben. Ein Tunnel sollte von hier direkt nach Jerusalem führen.


Am bekanntesten ist jedoch die Geschichte des Golems: Der Gelehrte Rabbi Löw (Jehuda ben Bezalel Löw) soll im 16. Jahrhundert einen Koloss aus Lehm gebildet und ihm Leben eingehaucht haben. Dieser Golem sollte dem Schutz der jüdischen Gemeinde dienen und war angeblich auf dem Dachboden der Altneusynagoge versteckt. Die Neugier eines Journalisten machte diese Legende im 19. Jahrhundert zunichte, als er heimlich den Dachboden erklomm und keinen Golem vorfand.

In nächster Nähe zur Altneusynagoge und dem Rathaus befindet sich der alte jüdische Friedhof der Prager Gemeinde. Auf nur einem Hektar stehen hier 12.000 Grabsteine. Da der Platz auf dieser letzten Ruhestätte begrenzt war, wurde im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Erde aufgeschüttet, sodass die Toten stellenweise in bis zu neun Lagen übereinander bestattet sind. Heute bietet der (von Touristen überlaufene) Friedhof mit seinen mystisch und exotisch anmutenden Grabsteinen dutzende spannende Fotomotive.

  
Auch Rabbi Löw, der Erschaffer des Golem, fand hier seine letzte Ruhe. Heute ist sein Grab ein Anlaufpunkt für einige der Gläubigen unter den Touristen.


Direkt an den alten Friedhof grenzt die Klausensynagoge an, in der sich heute ein recht gut ausgestattetes Museum über die jüdische Kultur befindet. Hier kann man Artefakte aus dem religiösen Leben der jüdischen Gemeinde betrachten.
Auf der anderen Seite des Friedhofs steht die Pinkas-Synagoge. Hier stehen die Namen der 78.000 tschechoslowakischen Juden, die während des Holocaust umgekommen sind.


Eines der schönsten jüdischen Gotteshäuser in Prag ist die Spanische Synagoge. Vor ihr steht eine kafkaeske plastische Figur, die den Herrn Kafka abbilden soll. Das Innere der Synagoge ist jedoch (für den Moment) viel interessanter.


In einem anderen Stadtteil, nahe dem Wenzelplatz, findet man die Jerusalem-Synagoge. Ihr maurischer Stil mutet sehr orientalisch. Sie wurde erst 1906 gebaut und ist somit eine der jüngeren Synagogen der Stadt.


Wer das Grab Franz Kafkas sucht, muss zum Neuen Jüdischen Friedhof gehen. Dort entdeckt man ein Zeugnis der Komplexität und Vielfalt der Prager Bevölkerung, die sich sogar innerhalb der jüdischen Gemeinde wiederspiegelte. Friedhöfe sind wunderbar aufschlussreiche Orte, die man nicht unterschätzen sollte. Sie dokumentieren durch ihre verschiedensprachigen Grabsteininschriften ein breites kulturelles Spektrum: Hier liegen assimilierte tschechisch-jüdische Familien neben assimilierten deutsch-jüdischen Familien begraben. Weltkriegssoldaten, gefallen in Diensten des österreichischen Kaisers. Grabdenkmäler nennen die Namen derer, die in Auschwitz, Treblinka oder Theresienstadt verscharrt wurden. Deutsche Namen, tschechische Namen, hebräische Namen. Vereinzelt russische Gräber.


Die Grabsteinsymbolik gibt Auskunft über den Stamm oder die historische Abkunft der Verstorbenen: Zum Segen erhobene Hände stehen für ein Mitglied des Priestergeschlechts, der Kohanim. Und wer die hebräischen Schriftzeichen lesen kann, der findet Aufschluss darüber, ob die hier bestattete Person ein Abkömmling der Leviten, der Priester oder gar der Hohepriester des Jerusalemer Tempels war. Fehlt die hebräische Inschrift, war der verstorbene königliche Kommerzienrat wahrscheinlich sehr tief in die nichtjüdische Gesellschaft der Stadt integriert. Friedhöfe sind ein offenes Buch und eine historische Dokumentensammlung. Und inmitten dieses Waldes aus steinernen Grabstelen, relativ am Anfang und in der ersten Reihe, stößt man auf Herrn Dr. jur. Franz Kafka, dessen letzte Ruhestätte mit Zettelchen, Steinchen und geschriebenen Nachrichten auf Englisch, Deutsch und Japanisch übersät ist.


Zum jüdischen Prag gehören viele Aspekte: Das alte Viertel Josefov, die Synagogen, der alte und der neue Friedhof, Kafka, der Holocaust. Diese Bilder waren nur ein kleiner Einblick in ein spannendes, vielseitiges, doch von Touristen überlaufenes Kapitel der Prager Geschichte.

Moscheebrände und fehlende Sensibilität

Innerhalb von nur acht Tagen brannten drei Moscheen in Deutschland. Die Meldungen darüber muss man meist in Regionalzeitungen suchen. Doch endlich fragen einige Stimmen: Was läuft falsch bei uns?

In Deutschland werden antimuslimische Straftaten in keinem Bundesland - mit Ausnahme von NRW (7. Juli) - als solche erfasst. Es ist also nicht verwunderlich, dass bei Ermittlungen zu Moscheebränden recht unsensibel vorgegangen wird. Ein Beispiel:Beim Brand des Rohbaus der Berliner Mevlana-Moschee wurde Brandstiftung fast reflexartig ausgeschlossen. Die Polizei sah „keine Hinweise auf ein politisches Motiv“. Vielmehr käme ein technischer Defekt, beispielsweise einer Baumaschine, oder Fahrlässigkeit als Brandursache in Frage, hieß es in einem kurzen Bericht des RBB am 12. August. Hohe Berliner Politiker blieben der Unglücksstelle fern, von offizieller Seite wurde nur das Mindestmaß an Anteilnahme gezeigt. Der Vorsitzende der Islamischen Föderation Berlin (IFB), Fazlı Altın, übte daraufhin scharfe Kritik am Senat: „Weder der Bürgermeister noch irgendein Senator des Landes Berlin hat es für nötig gehalten, die Mevlana-Moschee zu besuchen oder wenigstens per Telefon sein Mitgefühl mitzuteilen“, sagte er laut einem weiteren Bericht des RBB. Anstelle deutschen Vertreter machten sich der türkische Botschafter Avni Karslıoğlu und der türkische Generalkonsul Ahmet Başar Şen ein Bild von der Lage vor Ort. Türkische Repräsentanten für eine türkische Angelegenheit? Fast scheint es so. Einige Tage später fand man Spuren von Brandbeschleuniger im Schutt. War es doch Brandstiftung? Ganz klar ist es noch nicht. Doch die Situation nötigte dem Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) nun endlich eine schriftliche Stellungnahme ab, in der er versicherte, wie ernst er Brände an religiösen Gebäuden nehme - „ganz gleich, ob es sich um Kirchen, Synagogen oder Moscheen handelt“. Ein überfälliges Statement. Doch Henkel teilte auch mit, er habe den türkischen Generalkonsul telefonisch über die neuen Erkenntnisse informiert. Hier stellt sich wiederum die Frage: Wieso ist das Ganze eine türkische Angelegenheit - und keine deutsche? Henkel wird dafür von MiGAZIN-Gründer und Herausgeber Ekrem Şenol stark kritisiert: „Nicht mit den Gemeindemitgliedern [hat] er also gesprochen, sondern mit Repräsentanten der Republik Türkei. Dass die Moschee auf deutschem Grund und Boden steht und die Gemeindemitglieder mehrheitlich deutsche Staatsbürger sind, [scheint] in diesem Zusammenhang keine Rolle gespielt zu haben.“

Vielleicht ist es genau das, was bei uns falsch läuft: Trotz der alle Jahre wieder aufflammenden Debatten über Kopftücher und Religionsfreiheit ist den meisten Menschen noch immer nicht klar, dass hier keineswegs über die Angelegenheiten, die Kultur und das tägliche Leben von „Ausländern“ oder vorübergehend hier wohnenden Gastarbeitern diskutiert wird, sondern über die Belange von Menschen, die ein Teil unserer Gesellschaft sind und immer sein werden. In seinem Artikel „Moscheen in Deutschland gehören zur Türkei!“ folgert Ekrem Şenol aus der Aussage des Berliner Innensenators: „Wer sich so verhält, zeigt ganz klar, wo er sowohl die Moschee als auch die Gemeindemitglieder verortet. Wer sich so verhält, darf sich nicht wundern, wenn sich Menschen emotional mit der Türkei verbunden fühlen und diese Bindung zu Deutschland einfach nicht entstehen will. Wer sich so verhält, darf sich natürlich auch nicht wundern, wenn in Moscheen türkische Flaggen hängen und im Fernsehen türkische Nachrichten laufen. Darin finden sich diese Menschen viel häufiger als in den deutschen Nachrichten – selbst nach einem Moscheebrand.“
Kommt von deutscher Seite zu wenig? Nach der Aufdeckung der NSU-Morde gab es große Bestürzung und ebenso große Worte vonseiten der deutschen Politik. Es ging darum, Zeichen zu setzen, ein großes „Wir“ zu schaffen. Doch die Mehrheit der Deutschen lassen muslimische Tragödien jedoch kalt - zumindest wenn man vom Medienecho ausgeht. In der Praxis ist Mitgefühl nach Angriffen auf die muslimische Gemeinschaft in Deutschland nur bei Anwohnern, Nachbarn und Lokalpolitikern zu finden. In den Medien gibt es selten Bestürzung, wenn diese angebracht wäre - und selbst auf oberster Ebene herrscht zu oft Stillschweigen. Eigentlich müssten doch deutsche Politiker schon an Ort und Stelle sein, wenn eine Moschee in Deutschland brennt, noch ehe der türkische Botschafter überhaupt etwas davon mitbekommt. Doch als in Bielefeld binnen weniger Tage Gebetsräume von gleich zwei Moscheen mitsamt Koranexemplaren und Gebetsteppichen in Brand gesetzt wurden, schaffte es nur der Integrations-Staatssekretär Thorsten Klute, am Tatort vorbeizuschauen. Die Täter waren durch ein Fenster geklettert, hatten Korane gestapelt und angezündet. Eine politische Straftat war damit allerdings kurioserweise noch nicht erwiesen. Übergriffe auf Moscheen werden hierzulande immer noch als Einzelfälle wahrgenommen - oder als solche verharmlost. Drei Einzelfälle in nur acht Tagen. Können wir das wirklich ignorieren? Lässt es die deutsche Öffentlichkeit denn völlig unbeeindruckt, wenn hierzulande die (heiligen) Bücher einer Religionsgemeinschaft verbrannt werden? Lenz Jacobsen von der ZEIT meint dazu: „Aber, seien wir ehrlich – ginge es nicht um Moscheen, sondern um Kirchen oder gar Synagogen, wäre der Aufschrei groß. Und zwar zu Recht: Gewalt aus Hass gegen Religionen ist deshalb besonders geächtet, weil sie nicht nur das unmittelbare Opfer verletzt, sondern alle, die dazu gehören.“ Und er ergänzt: „Wer einen Koran anzündet, trifft jeden, dem der Koran wichtig ist.“ Dieses Phänomen, das von der Soziologie als „gruppenbezogener Menschenhass“ bezeichnet werde, träfe neben Religionsgemeinschaften auch andere gesellschaftliche Gruppen, z.B. Obdachlose, Arme, Reiche, Ausländer, Deutsche. Doch bei keiner Gruppe nehme die Öffentlichkeit in ihrer Mehrheit Angriffe so schulterzuckend hin wie bei Muslimen. „Das ist Ausdruck einer gefährlichen Kälte im Umgang und einer Distanz vieler Deutscher zu den Muslimen in diesem Land.“ Diese Kälte und ihre Auswirkungen kann sich eine Gesellschaft meiner Meinung nach aber nicht leisten. Wir sollten uns fragen, wo wir stehen und wo wir stehen wollen im Kontakt mit unseren - und zwar allen - Mitmenschen. Denn es geht hier nicht nur um die leidige Debatte, ob der Islam nun zu Deutschland gehört oder nur die Muslime - oder weder noch. Es geht in erster Linie um die Anerkennung von Menschen als unsere Nachbarn und Mitbürger. Man findet regelmäßig dutzende Gründe, eine Gruppe als Ganze zu verteufeln. Doch bei der grundlegendsten Frage des Alltags, nämlich der des friedlichen Zusammenlebens, geht es nicht zuerst um deutsche Islamisten, die in Syrien ihren persönlichen Heiligen Krieg kämpfen, oder um weit verbreitete muslimische Judenfeindschaft, die - anders als der Antisemitismus großer Teile der deutschen Mittelschicht - bisweilen offen zutage tritt. Denn das alles sind Aspekte, die nur von Menschen auf gleicher Augenhöhe angegangen und gegebenenfalls bekämpft werden können. Doch die gleiche Augenhöhe und die nötige Achtung des Gegenübers sind nicht gewährleistet in einer Gesellschaft, in der jegliche Sensibilität fehlt. In der man jemanden noch immer aus fünfzig Meter Entfernung als „Ausländer“ identifizieren zu können glaubt. In eine Gesellschaft, in der sich kaum jemand darüber empört, wenn am 20. Jahrestag des Brandanschlages von Solingen bei Anne Will über Islamismus diskutiert wird. Oder eben wenn nachts Korane verbrannt und Moscheen angezündet oder beschmiert werden.


(Quelle: AP)

Zitierte Quellen:
Moscheen in Deutschland gehören zur Türkei!“ (Ekrem Şenol, MiGAZIN, 21.08.2014)
Und im Stillen brennen die Moscheen“ (Lenz Jacobsen, ZEIT, 21.08.2014)
Keine Hinweise auf politisches Motiv bei Moscheebrand“ (RBB, 12.08.2014)
Ermittlungen nach Moschee-Brand“ (RBB, 16.08.2014)

Sonntag, 3. August 2014

Merkwürdige Begegnung im Museum

Heute Vormittag war ich mit einem Bekannten im Ägyptischen Museum in Leipzig. Dort habe ich eine der verwirrendsten, beeindruckendsten und merkwürdigsten Personen getroffen, die mir seit Langem untergekommen sind.

„Glauben Sie, dass die alten Ägypter den Regenbogen gekannt haben?“, fragte mich die alte Dame.

Merkwürdige Frage. Ich antwortete: „Hmm, Regenbögen treten ja in regenreicheren Ländern bestimmt häufiger auf.“

Und mit dieser einfachen, physikalisch und optisch völlig inkorrekten Antwort hätte ich es wahrscheinlich auf sich beruhen lassen.

„Aber beim Wasserschlauch…“ – Okay, sie war nicht zufrieden. Und sie hatte auf dieses Gespräch gelauert, merkte ich.

Was folgte, waren in wenige Sätze gefasste Erklärungen, die von den beiden Enden eines Regenbogens sowie seines parallel verlaufenden, aber spiegelverkehrten Ebenbildes bis hin zu dem Schmuckstück führte, das vor uns in der Vitrine lag. Zunächst hielt ich die alte Dame für eine verwirrte Kampfrentnerin. Doch ihre Erklärung, wieso das vor uns liegende Collier in Wirklichkeit grün gewesen sein musste und nicht blau und rot, wie die Restaurateure es eingefärbt hatten, überzeugte mich. Wieso genau und warum, ich kann es nicht mehr sagen. Ich fragte sie, ob sie Ägyptologin sei. Doch da meinte sie nur, sie sei hier, um nicht mit Demenz ins Heim eingeliefert zu werden. Sie hätte keine leiblichen Kinder, deshalb bräuchte sie Kinder im Geiste. Dann folgte irgendeine Erklärung, die mit ägyptischer Symbolik zu tun hatte. Dabei berührte sie ihren Kopf und klopfte auf ihren Unterleib.
Als ich dieser Frau eine Etage weiter oben wieder begegnete, ging es wieder los. Dieses Mal hatte sie einen Schakal auf einem Boot oder Schlitten entdeckt und quasi ad hoc eine neue Erkenntnis gewonnen – an die ich mich im Detail allerdings nicht erinnern kann. Es ging mit heiligen Schriften los. Am Anfang war das Wort, meinte sie jedenfalls. Und dann ging es über frühchristliche Sakralarchitektur, Vorhänge im Altarraum und das geometrische Kreuz zwischen Ost und West zur nächsten Erkenntnis: Ost und West seien dasselbe. Was man übrigens auch an Frau Merkel und Herrn Putin merken würde. Aber da war nichts Politisches dabei, es ging vielmehr um Philosophie. Dazu malte sie irgendwelche Bilder auf ihre Eintrittskarte. Ich meinte stirnrunzelnd, dass ich auf diesen Gedanken jetzt nicht gekommen wäre – halb skeptisch, aber auch ein wenig beeindruckt von dieser unglaublich gebildeten Dame, für die jeder Satz zu kurz war, um alles hineinzupacken was sie eigentlich loswerden wollte. Die Frau meinte nur, ich sei ja auch keine 75 Jahre alt wie sie selbst. Sie fragte mich, was ich studiert hätte. Als ich ihr geantwortet hatte meinte sie, dass es kein Zufall sei, dass ich ihr heute begegnet war. Sie redete noch ein wenig weiter und irgendwann meinte sie dann noch, dass sie keine Angst vor dem Tod hätte, da ja schon Einstein bewiesen hätte (e=mc²), dass Masse nicht einfach verschwinden könne und so immer irgendetwas zurückbliebe. Schließlich wünschte sie mir viel Erfolg und wandte sich anderen Vitrinen zu.

Fazit: Entweder bin wirklich ich persönlich zu dumm, um die wesentlichen Erkenntnisse dieser Frau weiterzutragen – oder sie war uns allen einfach irgendwie voraus. Egal wie wirr alles geklungen haben mag, was sie mir gesagt hat, ich konnte kaum etwas hinterfragen. Diese alte Frau war nicht verrückt und nicht im Geringsten verwirrt. Alles was sie sagte hatte – auf den ersten Blick zumindest - Hand und Fuß. Ich hatte eher das Gefühl, dass sie in jeden einzelnen Satz so viel Information packte, dass es schwierig war ihr zu folgen. Unmittelbar nach den beiden Gesprächen hatte ich das Gefühl, einer der „erleuchtetsten“ Personen begegnet zu sein, die mir jemals über den Weg gelaufen sind. Aber irgendwie fand ich es auch gleichermaßen erschreckend und gruselig.


Aber ihr dürft mich gern für verrückt erklären… ;)