Samstag, 11. August 2012

Die Notablenfamilien von Jerusalem


Die palästinensisch-arabischen Notablenfamilien waren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Element im Gefüge der palästinensischen Gesellschaft. In Jerusalem waren vor allem vier dieser Familien von großer Bedeutung. Hier werde sie in einem kurzen Überblick vorgestellt.

Naschaschibi

Der Name bedeutet so viel wie „Pfeilmacher“. Der Urahn dieser Familie, Nasr ad-Din an-Naschschibi, kam im Jahre 1469 als Stammesfürst und Armeeführer unter den Mamluken aus Ägypten nach Jerusalem. Ihm wurde die Aufsicht über die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und die Höhle der Patriarchen (Abrahamsmoschee) in Hebron übertragen.

Die Naschaschibis etablierten sich zu einer der wichtigsten Jerusalemer Familien. Viele ihrer Mitglieder hatten wichtige Positionen in den lokalen Regierungen unter den Mamluken, den Osmanen, zur Zeit des britischen Mandats und auch unter jordanischer Herrschaft inne. Sie waren auch bedeutend als Grundbesitzer, Händler und Beamte. Ein prominenter Familienältester, Raschid an-Naschaschibi, war einer der zwei Repräsentanten Jerusalems im osmanischen Parlament (Madschlis). Ein weiterer Vertreter der Familie war der als Bürgermeister fungierende pro-britische Raghib an-Naschaschibi (1881-1951).

Husseini

Die Familie al-Husseini führt sich traditionell zurück auf den Sohn Alis, Hussein ibn Ali. Die ersten Mitglieder des Clans kamen im 12. Jahrhundert mit Sultan Saladin ins Heilige Land. Im Gegensatz zum größten Teil der Bevölkerung Palästinas gehörten die Husseinis der hanafitischen und nicht der schafiitischen Rechtsschule an. Die Familie war vor allem in der Jerusalemer Altstadt, aber auch in Scheich Jarra oder Katamon vertreten.
Im Laufe der Geschichte kämpften die Husseinis gegen verschiedene Herrscher, darunter Muhammad Ali, die Jungtürken und später die Briten. Die Husseinis vertraten in großem Maße die nationalistischen Strömungen unter den eingesessenen Familien Jerusalems.

Bekannt wurde vor allem der Großmufti von Jerusalem, Muhammad Amin al-Husseini (1897-1974), der im Arabischen Aufstand gegen die Briten, die Zionisten und auch gegen die rivalisierende Familie der Naschaschibis kämpfte. Er war berüchtigt für seine Kontakte zu den deutschen Nationalsozialisten: Seit 1941 lebte er in Berlin. Husseini wusste nachweislich vom Holocaust und unterstützte ihn.

Nusseibeh

Die an-Nusseibehs sind die älteste der Jerusalemer Notablenfamilien. Sie führen sich auf eine Gefährtin des Propheten Muhammad mit Namen Nusseiba zurück und sind ein Unterclan des Khazraj-Stammes aus Medina. Die Familie kam mit den islamischen Eroberungen ins Heilige Land und ist seit dem Jahre 637 in Jerusalem ansässig.

Bekannt ist die Familie vor allem für die Zuständigkeit über die Grabeskirche in Jersusalem:
Seit der Eroberung der Stadt durch Sultan Saladin im Jahre 1192 besitzen die Nusseibehs die Schlüssel zu diesem christlichen Heiligtum. Da unter den christlichen Konfessionen immer Uneinigkeit herrschte, was die Zuständigkeitsbereiche innerhalb der Kirche anging, gab der Herrscher die Verantwortung an eine muslimische Familie ab. Später wurde unter den Osmanen ein anderer Schlüssel an eine weitere wichtige Jerusalemer Familie, al-Ghudayya (heute Joudeh), übergeben. Seither teilen sich beide Familien die Verantwortung.

Khalidi

Es gibt verschiedene Angaben über die Herkunft der Familie al-Khalidi. Einigen Quellen zufolge taucht sie erst im 11. Jahrhundert in Jerusalem auf. Die Familie selbst führt sich auf Khalid ibn al-Walid zurück, einen wichtigen General bei der muslimischen Eroberung Jerusalems im siebten Jahrhundert.

Die Familie ist bedeutend aufgrund ihrer langen Linie von Richtern und Gelehrten. Bekannte Persönlichkeiten aus neuerer Zeit waren u.a. Hussein al-Khalidi (1895-1966), der einige Jahre Bürgermeister von Jerusalem war, oder dessen Neffe Rashid Ismail Khalidi (geb. 1948), einem US-amerikanischen Historiker.

Die Rivalität zwischen den Husseinis und den Naschaschibis

Mit Beginn der britischen Mandatszeit begann sich der Konflikt zwischen der arabischen Bevölkerung und den zionistischen Neueinwanderern zu verschärfen. Die Palästinenser spalteten sich in unterschiedliche Lager. Vor allem zwei Familien taten sich als politische Führer in dieser Zeit hervor: die Husseinis und die Naschaschibis. – Während die Husseinis die nationalistische Position vertraten, kamen die Naschaschibis den Briten in vielen Punkten entgegen. Zwischen beiden Familien entstand eine ausgeprägte Feindschaft.
Im Arabischen Aufstand 1936/39 entluden sich schließlich nicht nur die Spannungen zwischen den einwandernden Juden, der britischen Mandatsmacht und der palästinensischen Seite. Auch die innerpalästinensischen Spannungen feuerten den Konflikt an. Der ehemalige Jerusalemer Bürgermeister Raghib an-Naschaschibi stellte sich auf die Seite der Briten und unterstützte die Kolonialmacht mit kleinen, paramilitärischen Truppen. Die Naschaschibis waren für ihren moderaten, probritischen Kurs bekannt. Sie vertraten die Ansicht, dass die Palästinenser ihre politischen Ziele besser durch Kooperation mit den Briten umsetzen könnten als durch Kampf. Während des Aufstandes verloren sie jedoch stark an Zuspruch unter den Palästinensern. Muhammad Amin al-Husseini, der Großmufti von Jerusalem, setzte auf die militärische Lösung und trieb den Kampf voran. Zwischen den Naschaschibis und den Husseinis entstand nun ein blutiger Konkurrenzkampf.

Die Notablenfamilien heute

Nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948/49 änderten sich die Verhältnisse im Land grundlegend. Die Strukturen der traditionellen palästinensischen Gesellschaft wurden durch Flucht und Vertreibung aufgelöst. Auch die Notablenfamilien büßten an Einfluss und Grundbesitz ein. Viele ihrer Mitglieder flüchteten ins Ausland.

Dennoch spielen viele der Familien bis heute noch eine Rolle in der politischen und gesellschaftlichen Landschaft der Palästinenser. Beispielsweise ist der heutige Gouverneur des Gouvernements Jerusalem, einer palästinensischen Verwaltungseinheit, Adnan al-Husseini (geb. 1947). Er ist außerdem zuständig für die Verwaltung des Felsendoms und der Al-Aqsa-Moschee.

Ein wichtiger Vertreter der Familie an-Nusseibeh ist Sari Nusseibeh (geb. 1949), Professor der Philosophie und Präsident der Al-Quds University. Er ist vor allem bekannt für seine gemäßigte Haltung und seine Unterstützung für einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern. Schon 1987 half er, die geheimen Friedensgespräche zwischen der Fatah und der israelischen Regierung zu organisieren.
Der Schlüssel zur Grabeskirche befindet sich weiterhin in der Verantwortlichkeit der Familie an-Nusseibeh.


(Dieser Artikel ist auch auf der Seite von Rock of Peace veröffentlicht!)

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