Samstag, 14. April 2012

Himmel und Hölle in Stuttgart Mitte

Heute bin ich mal wieder nach Stuttgart gefahren. Und es gab einen speziellen Anlass:
Es ist Samstag.
Am ersten Tag des Wochenendes versammeln sich in den Fußgängerzonen all jene, die für eine bessere Welt kämpfen - oder für ein besseres Leben nach dem Tod. So ist es kaum verwunderlich, dass ich zwischen drei Infoständen des Deutschen Roten Kreuzes und einer sehr abschreckenden Bildergalerie militanter Veganer, die einem (mit Recht) den guten Appetit verderben wollen, auf eine Reihe von religiösen Freizeitmissionaren gestoßen bin.
Eigentlich wollte ich heute nach Stuttgart fahren, weil im Radio angekündigt worden war, die Salafisten würden heute gratis Koranexemplare verteilen. Die Aktion war unter dem Motto "Für jeden Haushalt einen Koran!" angelaufen und sollte uns Deutsche dem angeblich wahren Wort Gottes etwas näher bringen.
Für den ahnungslosen Spaziergänger an einem milden Samstagmittag ergibt sich jedoch folgende Problematik:
Ein gutes Dutzend von religiösen Gruppierungen behauptet von sich, im Besitz der exklusiven Wahrheit zu sein. Da wir uns ja bekanntlich in der Endzeit befinden - behauptet jede Religionsrichtung - sind wir sowohl dem Himmel als auch der Hölle sehr nahe. In Fußgängerzonen verkünden Pappkartons, die von alten, bärtigen Männern getragen werden, in roter Schrift "Jesus oder Höllenabgrund!". Dieser Slogan ist neu. Früher lief hier immer ein (ebenfalls bärtiger) Zeitgenosse mit einem großen Emailleschild ("Babytaufe ist Satanswerk!") auf und ab und bahnte sich seinen Weg durch die Un- oder Falschgläubigen. Muslimischerseits ist gerade das T-Shirt "Coming soon: Al-Qiyama" modern, das ein Unwissender/Ungläubiger nicht versteht, weil ihm der Begriff Qiyama für "Auferstehung" bisher nicht geläufig ist.
Der Jüngste Tag steht unmittelbar bevor. So auch an diesem Mittag. Eine Freikirche bietet Broschüren an, vorwiegend auf Türkisch. Irregeleitete Muslime muss man natürlich als erste retten. Deshalb wird hier Infomaterial auf allen möglichen Sprachen angeboten. Jesus rettet uns vor der Hölle, wird einem hier klar. Hundert Meter weiter trifft man auf eine Bewegung, die Jesus gar nicht erst in ihren Werbebroschüren erwähnt. Unterlegt ist der Flyer mit Flammen und Höllenfeuer. Es wird erst einmal zum Nachdenken angeregt: Warum sollte uns Gott helfen, wo wir uns doch alle kein bisschen für ihn interessieren? Da ist was Wahres dran. Warum sollte er? Dann wird klar, dass Gott unser Freund sein will. Wer mehr Infos braucht, bekommt weiteres Material per Post. Sehr ermutigend.
An einer Straßenecke stehen die Zeugen Jehovas. Ein weiterer Haufen lustiger Zeitgenossen, die aber wenig Spaß verstehen. Auch hier wird man vor die Wahl gestellt: Entweder man wendet sich ab von der Mainstream-Kirche, die (wen wundert's) auch einer Irrlehre folgt, oder man endet... wo? Genau: Im ewigen Höllenfeuer. Aufmuntern kann einen nach so einem Gruselkabinett eigentlich nur der fröhliche Gesang einiger schwarzafrikanischer Gospelsänger mit Gitarre, die schon auf ihren Einsatz warten.
Da haben sich ja mal wieder einige auf den Weg gemacht, um verlorene Seelen zu retten. Nur die Salafisten fehlen. Dafür hat die Ahmadiyya-Gemeinschaft ihre Chance gewittert. Sie bekundet auf blauen Flyern, dass Muslime für Frieden, Freiheit und Loyalität stehen. Unten weht sogar eine deutsche Flagge! Innen wirbt der Flyer mit ausgewählten Zitaten für 2 (!) Persönlichkeiten: Einmal für den Propheten Muhammad und dann für eine weitere, mir bisher relativ unbekannte Gestalt. Es ist der Messias Ghulam Ahmad, Begründer der Ahmadiyyas. Wer hätte ahnen können, dass hier - wie in fast allen Religionen - ein Messias ins Spiel kommt. Komplizierte Angelegenheit...
Ich frage einen Ahmadi, ob er hier ein paar Salafisten gesehen hätte. Ich wolle mir nämlich kostengünstig einen Koran anschaffen. Der Mann kann nur Englisch und versteht nur Bahnhof - kein Wunder, gegenüber treibt Stuttgart 21 sein Unwesen.

Wieder zuhause angekommen höre ich im Radio: "Doch nicht so viele Koranverteilungen wie erwartet!" - Na toll, da kann ich ja lange suchen.

Wir befinden uns doch alle auf der Suche, nicht wahr? Wollen wir mal hoffen, dass einige von uns fündig werden. - Den meisten radikalen Splittergruppen aller Religionsrichtungen zufolge haben wir nicht einmal mehr bis morgen Zeit.

Doch wie sagte schon Serdar Somuncu:
"Man darf die Hölle nicht ignorieren - man muss sie in Kauf nehmen." ;)

Montag, 2. April 2012

Sarajevo - Aufbruch nach Europa

Vor 20 Jahren begann die blutige Belagerung von Sarajevo. Heute ist die „ungeschliffene Perle des Balkan“ eine der aufregendsten Städte Europas. Doch Narben sind geblieben.

Im Jahre 1995 lenkten U2 und Luciano Pavarotti die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf eine Stadt in Bosnien, die erst vor kurzem Hauptstadt geworden war. Als sie ihren gemeinsamen Song „Miss Sarajevo“ veröffentlichten, hatte der Krieg den größten Teil der Zerstörung schon längst angerichtet, denn zu dieser Zeit war Sarajevo schon mehr als zwei Jahre unter der Besatzung und dem Dauerbeschuss bosnisch-serbischer Truppen. Heute hat sich die Stadt äußerlich weitgehend von den Kriegsjahren erholt. Die Schäden sind behoben, Gedenkstätten wurden gebaut, Moscheen und Kirchen erfüllen am Mittag die Luft mit Musik und Gesang. Diese Stadt hat schon viele Kriege gesehen und Schlachten überwunden. Doch während in Deutschland der „letzte Krieg“ schon weit über ein halbes Jahrhundert zurückliegt, ist es hier nur die Dauer einer Kindheit. Während meiner Balkan-Reise im März dieses Jahres hatte ich die Gelegenheit, eine faszinierende Stadt kennenzulernen, die eine turbulente Geschichte hinter sich hat und nun den beschwerlichen Weg nach Europa angeschlagen hat.

Eine Reise nach Sarajevo lohnt sich in jeder Hinsicht. Der Duft aus den unzähligen Čevabdžinicas und Buregdžinicas, den Imbissen und Restaurants, erfüllt die Luft und lädt ein zu einem Spaziergang durch die Baščaršija, das alte türkische Basarviertel. Vierhundert Jahre osmanischer Geschichte spiegeln sich in den Gassen der niedrigen Holzhäuser wieder, wo große Moscheen an die islamische Identität der Bosniaken erinnern. Doch auch der große katholische Dom gehört zum Stadtbild ebenso wie die Lateinische Brücke, an der 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand mit seiner Gemahlin erschossen wurde, was eine der Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs war.
Heute bietet die Aussicht von der Festung der Stadt ein gutes Panorama über das Tal, den Fluss und die vielen Stadtteile, die in sich die Vielfalt der Jahrhunderte osmanischer und österreichischer Herrschaft vereinen. Nur am Horizont dominiert der sozialistische Einfluss Jugoslawiens in Form von Plattenbauten. Doch der Blick fällt auch auf den großen, überfüllten Friedhof am Fuße des Hügels. Sarajevo ist eine Stadt der Friedhöfe. Die weißen, muslimischen Marmorstelen drängen sich an allen Moscheen. Man hat die alten, längst aufgegebenen Begräbnisstätten wiederverwenden müssen, aus Platzmangel. Doch auch Hinterhöfe, Grünanlagen und sogar Sportplätze bekamen aus Not einen neuen Verwendungszweck. Gerade diese weißen Grabsteine, die meistens noch keine 20 Jahre alt sind, kennzeichnen vor allem die Gräber der zu jung Verstorbenen. Jugendliche, junge Erwachsene, die meisten Gräber tragen das Todesdatum 1993.
Um ein wenig von der Realität aufzufangen, in der die Einwohner Sarajevos vier Jahre lang lebten, lohnt sich ein Besuch des kleinen Geschichtsmuseum, das sich im Westen der Stadt befindet, nahe dem Holiday Inn. Das Hotel beherbergte in Zeiten des Krieges die Berichterstatter aus aller Welt, zentral gelegen, direkt an der Hauptkampflinie. Heute liegt hundert Meter weiter das kleine Museum, das Zeitungsartikel, Waffen und Alltagsgegenstände aus der Zeit der serbischen Belagerung zeigt. Hier hängt auch die erste Fahne von Bosnien und Herzegowina, von Kugeln zerlöchert. Die Unabhängigkeitserklärung Bosniens im März 1992 war der Grund für das militärische Eingreifen der Jugoslawischen Volksarmee. Die größtenteils aus Serben bestehenden Truppen zogen den Ring um Sarajevo zu und schnitten die Stadt somit von der Außenwelt ab. Durch eine Luftbrücke wurde die Stadtbevölkerung für internationale Transportmaschinen erreichbar gemacht. Die Verbindung zwischen dem italienischen Flughafen Falconara und dem besetzten Sarajevo wurde fast vier Jahre lang aufrecht erhalten und bestand somit länger als die Berliner Luftbrücke. Lebenserhaltend für die Stadtbevölkerung war auch der 800 Meter lange Sarajevo-Tunnel. Mit Schaufel, Spitzhacken und den eigenen Händen gegraben versorgte er die Einwohner der Stadt mit Nahrung und Alltagsgegenständen. Im Museum ist ein Marktstand nachgebaut, auf ihm liegen UNO-Seife und Gaskartuschen zum Kochen. Besonders schockierend sind jedoch die Fotos jener Tage, die um die Welt gingen und die nun im Museum die Geschichte jener Tage erzählen. Sie zeichnen das dramatische Bild einer Stadt, die vom Krieg gezielt ins Visier genommen worden war. Bilder von Beerdigungen und Lazaretten, überfüllten Stadtbussen und Panzer der Vereinten Nationen, hinter denen die Menschen Deckung suchen. Die Ausstellung ist nicht allzu groß, doch sie führt dem Besucher vor Augen, wovon man in Mitteleuropa zu wenig mitbekommen hatte. An einem künstlichen Laternenpfahl hängt ein Pappschild. Es trägt die Aufschrift „Pazi – Snajper!“ – „Vorsicht Scharfschützen!“. Entlang der Hauptstraße Zmaja od Bosne hatten sich serbische Scharfschützen auf den Hochhäusern versteckt und schossen auf alles was sich bewegte. In den Jahren der Besatzung starben hunderte Menschen durch diese gezielten Schüsse, darunter 60 Kinder.

Dieser Krieg, der weniger als 20 Jahre zurückliegt, hat die Menschen verändert. Die Narben an den Hausfassaden sind mit der Zeit weniger geworden, die Ruinen sind größtenteils verschwunden. Doch für viele Bewohner Sarajevos kommt der Alptraum jede Nacht zurück, wenn das Geräusch der dumpfen Einschläge tausender Geschosse aus den hintersten Ecken der Erinnerung hervorbricht, wenn der Geschützdonner wieder in den Ohren hallt und man schweißgebadet aufwacht. Auf der Straße begegnen sie einem von Zeit zu Zeit, diejenigen, die den Schaden nie überwunden haben. Menschen, denen ein Bein fehlt, die an der Straßenecke betteln. Mir kommt ein Mann entgegen, der wirres Zeug vor sich hin redet, vor dem Denkmal für die gestorbenen Kinder auf den Boden spuckt und sich danach bekreuzigt. Er geht auf und ab, mit leerem Blick.
Doch man gedenkt und arbeitet auf. An Menschen, die durch Möser und Granateinschläge zu Tode kamen, erinnerte man nach dem Krieg durch rote Flecken aus Kunstharz, das man in die kleinen, oft blumenförmigen Krater füllte. Heute sind die meisten dieser sogenannten „Rosen von Sarajevo“, die auf traurige Weise sowohl an das Blut der Getöteten als auch an Blumen erinnern, durch die Schritte der Fußgänger, den langen Winter und den Regen abgenutzt und verschwinden nach und nach aus dem Stadtbild. Viele Gedenkstätten sind jedoch geblieben. Sie sind nicht anonym, sondern tragen fast immer die Namen derer, die hier ihr Leben gelassen hatten.
Bosnien kämpft immer noch mit dem Folgen des Kriegs. Vor allem im Norden, in der serbischen Teilrepublik Bosniens, stehen noch viele Ruinen am Straßenrand. In den Wäldern liegen noch tausende von Minen, eine tödliche Falle für Wanderer oder spielende Kinder. Doch die Häuser werden wieder aufgebaut, die Minen geräumt. Bosnien ist im Wandel. Und Sarajevo ist ein gutes Beispiel für den Beginn eines neuen Miteinanders. Wo jahrhundertelang Muslime, orthodoxe Serben, römische Katholiken und auch Juden friedlich zusammengelebt haben, wo gegenseitige Toleranz Tradition hat, da fällt es den Menschen leichter, sich zu versöhnen.

Sarajevo hat seinen einstigen Charme wiedererlangt. Die kulturellen Anziehungspunkte sind liebevoll restauriert, die Restaurants der Stadt laden zum Schmaus. Zwar ist die Fußgängerzone akustisch noch dominiert von dem Klackern der Steinplatten, die bisweilen für den Fußgänger unsichtbare Stolperfallen verbergen und das März-Schmelzwasser an die Hosenbeine der Passanten spritzen, doch die Menschen sind offenherzig und genießen den nahenden Frühling, der den letzten Schnee aus den schattigen Ecken vertreibt. Hier treffen Tradition und Moderne aufeinander. Sarajevo bietet eine Vielzahl an Bars und Clubs. Muslimische Religionsschulen und Sonntagsgottesdienste in den zahlreichen Kirchen ergänzen die Spiritualität einer jugendlichen Stadt. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich Sarajevo deshalb auch den Spitznamen Klein-Jerusalem erworben. Genau wie Jerusalem haben die verschiedenen Identitäten oftmals zu Konflikten geführt. Der letzte begann vor genau 20 Jahren. Doch vor allem die positiven Aspekte, die in der Hauptstadt des Vielvölkerstaates Bosnien vereinigt werden, könnten dem Land auf dem langen Weg nach Europa Hoffnung und Zuversicht geben.