Freitag, 30. März 2012

Jerusalem des Südostens und ungeschliffene Perle des Balkan: Ein historischer Streifzug durch Sarajevo

Kulturelles Miteinander als Markenzeichen

Als Isa-Beg Ishaković, der erste osmanische Gouverneur von Bosnien, sein Anwesen in einer Siedlung an der Miljacka bauen ließ, entstand der Begriff saray ovası – die Felder um den Palast. Aus diesem Wort bildete sich im Laufe der Jahre der Name Sarajevo. Aus der kleinen Siedlung wurde eine bedeutende Stadt des Türkenreiches mit all ihren charakteristischen Strukturen, die sich vom Saray des Gouverneurs in alle Richtungen erstreckten. Im Sarajevo-Museum, das sich im Basar-Viertel der Stadt befindet, lerne ich, dass es in dieser osmanischen Stadt früher eine gut durchdachte Gliederung gab: Jedes Viertel (mahala) bestand aus 30 Häusern. Den Mittelpunkt eines Viertels bildete je eine Moschee mit Friedhof und öffentlichen Trinkbrunnen sowie eine Grundschule (mekteb), eine Bäckerei und ein Gemüsehändler.
Was ist bis heute von der bedeutenden Stadt geblieben, die 400 Jahre lang das osmanische Zentrum des Balkan darstellte?
Noch heute sind die Strukturen der historischen Altstadt erkennbar: Die niedrigen Häuser, die Moscheen und der überdachte Basar, in dem sich heute Modegeschäfte befinden, prägen das Straßenbild. Doch nicht nur geschichtsträchtige Gebäude und architektonisches Erbe sind bis in die heutige Zeit gepflegt und nach dem letzten Krieg (1992-1996) wieder aufgebaut worden. Auch der Geist der Stadt hat den Schlachten und Auseinandersetzungen der letzten Jahrhunderte getrotzt. Schon vor 600 Jahren waren die Religionen – über die sich auf dem Balkan größtenteils auch die Nationalität definiert hat – respektiert worden. Bis heute gibt es in Sarajevo eine Vielzahl alter Kirchen, Moscheen und sogar mehrere Synagogen Die Religionen und Kulturen haben hier nebeneinandergelebt ohne große Schwierigkeiten und in Eintracht. Katholische Kaufleute aus Dubrovnik, orthodoxe Serben, zum Islam konvertierte Bosniaken, spanische Juden und osmanische Türken.

Noch heute ruft ab und zu der Muezzin ohne Megafon vom Minarett der Baščaršija-Moschee. Er ist kaum zu hören, und sein Gesang wird im Gegensatz zu den klangvollen, lauten Gebetsrufen der anderen Moscheen nur wenig wahrgenommen. Der Ruf der Muezzine und das Läuten der Kirchenglocken – alle zusammen erzeugen sie ein unbeschreibliches Kompositum, das man in dieser Form nur in Städten wie Sarajevo oder Jerusalem zu hören bekommt.

Das Jerusalem Südosteuropas

Diese Mixtur aus Kirchen, Moscheen und anderen religiösen Stätten brachte Sarajevo den Namen „Klein-Jerusalem“ oder „Jerusalem Südosteuropas“ ein. Doch dies war nicht der einzige Grund. Sarajevo hat auch eine interessante und vielfältige jüdische Geschichte:
Als einer der wenigen Orte in Europa braucht Sarajevo seine jüdischen Stätten nicht mit Polizeischutz auszustatten. Die alte Synagoge liegt mitten im Stadtkern, dort wo sich seit Beginn des 16. Jahrhunderts die aus Spanien vertriebenen sefardischen Juden angesiedelt hatten. Nicht abseits des Zentrums, eingepfercht in Ghettos, wie andernorts in Europa. In Sarajevo konnte sich ein Miteinander zwischen Juden und Nichtjuden gut entwickeln. Religiöse Minderheiten prägten die Vielfalt der Stadt. Die jüdische Bevölkerung war gut integriert und hatte Teil am gesellschaftlichen Leben.
Die Juden Sarajevos und des ganzen Balkans stellen einen interessanten Aspekt der jüdischen Kultur dar: Da sie aus Spanien stammten sprachen sie eine spätmittelalterliches Spanisch, das bis in die moderne Zeit gepflegt worden war und auch durch bosnisch-jüdische Schriftsteller und Philologen am Leben erhalten wurde. Genaueres kann man im Jüdischen Museum erfahren, das sich in einer ehemaligen Synagoge befindet und überraschend gut ausgestattet ist mit Relikten und Kulturgütern, die von der Geschichte der bosnischen Juden erzählen, über ihre Anfänge bis hin in die Zeit nach dem Holocaust. Hier lernt man auch etwas über die bedeutenden Juden der Stadt. Da ist zum Beispiel die Schriftstellerin Laura Papo (1891-1942), die La Bohoreta genannt wurde, Theaterstücke schrieb und sich sozial engagierte. Auch Sprachforscher wie Baruch Kalmi, der 1945 im deutschen Konzentrationslager Bergen-Belsen starb, schufen wichtige Werke zur Erhaltung der judäo-spanischen Sprache des Balkan. Schriftsteller wie Isak Samokovlija, der bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges in Sarajevo lebte und wirkte, hatten nicht nur Anteil an der Erhaltung der jüdischen Kultur, sondern trugen mit ihren Werken auch zur Nachkriegsliteratur Jugoslawiens bei.
Samokovlija liegt auf dem jüdischen Friedhof begraben, den ich natürlich auch besuchen musste. Da Sarajevo im März noch nicht schneefrei war, lag auch der jüdische Friedhof unter einer weißen Decke aus Schnee und Eis versteckt. Ich hatte gehört, dass hier noch Minen aus dem letzten Krieg liegen sollen, doch der Museumswärter Kabiljo hatte mir gesagt, dass dort heute alles minenfrei sei. Der zweitgrößte jüdische Friedhof Europas – nach Prag – birgt eine Unmenge an Grabsteinen aus mehreren Jahrhunderten, Denkmäler für die Opfer des Holocaust und der kommunistischen Ära sowie eine wunderbare Aussicht über die weniger sehenswerte Weststadt von Sarajevo. Der kleine Ausflug nach Kovačići, wo der Friedhof liegt, hat mir nasse Füße beschert und einige wunderbare Fotomotive.

Ein Erzherzog und sein Attentäter

Als die österreichischen Verbände die Stadt im Jahre 1878 unter schweren, dreimonatigen Kämpfen besetzten, begann sich auch das Bild zu verändern. Aus der osmanischen Šeher wurde eine europäische Großstadt, deren Neustadt nach westlichem Vorbild gebaut wurde. Moderne Verwaltungsgebäude ergänzten nach und nach die Fassade Sarajevos. Und dennoch fanden österreichische Architekten hier einen hervorragenden Platz, um ihre Ideen auszuleben und eine neue, orientalistische Stilrichtung auszuprobieren. Im Sinne des maurischen Stils Spaniens wurde zum Beispiel die Nationalbibliothek Sarajevos errichtet. Imposante Bögen und ein mit Zinnen verziertes Dach passen sich in das multikulturelle Stadtbild ein. Auch religiöse Gebäude wie die große katholische Kathedrale stammen aus österreichischer Zeit.
Berühmtheit erlangte Sarajevo wohl vor allem durch ein Attentat, das hier stattfand: Am 28. Juni 1914 verübte der serbische Nationalist Gavrilo Princip ein Attentat auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie. Dabei war es eigentlich ein Zufall gewesen, der dem Thronfolger zum Verhängnis wurde: Eine Bombe hatte ihn nicht töten können, alle sieben Attentäter hatten ihn verfehlt. Als der royale Zug das Rathaus erreicht hatte, soll sich Franz Ferdinand beim Bürgermeister persönlich beschwert haben: „Herr Bürgermeister, Da kommt man nach Sarajevo, um einen Besuch zu machen und wird mit Bomben beworfen! Das ist empörend!“ Das sollen seine Worte gewesen sein – es waren wohl auch die letzten. Denn bei der Rückfahrt bog der Chauffeur falsch ab und musste umdrehen. Der enttäuschte Gavrilo Princip trank in einem Café währenddessen seelenruhig eine Tasse Mokka, als er den Erzherzog vorbeifahren sah. Er konnte sein Glück kaum fassen, zog seine Pistole der Marke Browning und erschoss den Thronfolger sowie seine Gattin.
Die Pistole hängt heute im kleinen, aber gut ausgestatteten „Sarajevo 1878-1918“-Museum, in dessen Eingangsbereich sich auch die in Beton gegossenen und in Jugoslawien verehrten Fußabdrücke des Attentäters befinden.
Princip und die anderen Attentäter wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das Attentat selbst hatte jedoch weitaus gravierendere Folgen: Das Pulverfass Europa explodierte und leitete die Welt in den ersten und bis dahin einzigen Weltkrieg, in dessen Folge fast zehn Millionen Menschen starben. Mit diesem Ereignis ging der Name Sarajevo in die Geschichtsbücher ein.

Das 20. Jahrhundert

Der Balkan war im 20. Jahrhundert Schauplatz unzähliger Kriege. Auf den Ersten folgte der Zweite Weltkrieg, dann wurde der Faschismus vom Sozialismus abgelöst. Die meisten Bosnier kämpften als Partisanen gegen die nationalsozialistischen Invasoren und verloren nicht selten dabei ihr Leben. Doch es gab auch andere: Aus einer Romanze Heinrich Himmlers mit den Ideologien der Muslimbruderschaft entstand die Idee, muslimische Bosniern für den Kampf gegen die Partisanen zu rekrutieren. Die sogenannte Handschar-Division umfasste 21.000 Mann und wurde spirituell gesehen unter die Fittiche des aus Palästina geflohenen Großmuftis von Jerusalem, Muhammad Amin al-Husseini, genommen, der bis heute aufgrund seiner freundschaftlichen Beziehung zu den Nationalsozialisten berüchtigt ist. Als Teil der Waffen-SS nahmen diese Bosnier auf Seiten der Deutschen am Zweiten Weltkrieg teil.
Nach dem Krieg trat Jugoslawien als Vielvölkerstaat auf dem Balkan in die Reihen der Blockfreien ein, zentral gelegen zwischen Ost und West. Doch zu Beginn der 1990er Jahre löste sich auch die Verbindung der slawischen Völker, die stets von Serbien dominiert wurden, langsam auf. Nachdem Bosnien im Jahre 1992 seine Unabhängigkeit erklärte, kam es zum Krieg. Sarajevo wurde fast vier Jahre lang belagert. Die Spuren der Zerstörung sind teilweise bis heute sichtbar: Einschusslöcher in den Fassaden, mühevoll zugegipste Wunden der Geschichte. Ruinen in der Vorstadt. Und die vielen, vielen Friedhöfe.

Heute hat Sarajevo seinen einstigen Charme wiedererlangt. Die kulturellen Anziehungspunkte sind hergerichtet und liebevoll restauriert, die neu eingerichteten Museen bieten Einblicke in die Geschichte und die Restaurants der Stadt laden zum Schmaus. Zwar ist die Fußgängerzone akustisch noch dominiert von dem Klackern der Steinplatten, die bisweilen für den Fußgänger unsichtbare Stolperfallen verbergen und das März-Schmelzwasser an die Hosenbeine der Passanten schießen, doch der Duft aus den unzähligen Čevabdžinicas (Restaurants für Ćevapčići) und Buregdžinicas (Imbissläden für Burek) sowie der Klang der verschiedenen Religionen, wie sie ihre Gläubigen zum Gebet rufen, sprechen für sich. Im Sommer, wenn die Cafés einladen, auf der Straße zu sitzen und das Treiben zu verfolgen, gibt es keinen passenderen Ort, um den Balkan leben zu sehen als die „ungeschliffene Perle“ Sarajevo. Wenn die Völker Bosniens irgendwann den Weg zur endgültigen Versöhnung finden und die letzten Tretminen aus den vielen Wäldern des Landes verbannt sind, dann ist auch Bosnien bereit für Europa.



Donnerstag, 29. März 2012

Mostar im März

Zusammen mit Tino fahre ich weiter nach Bosnien. Die sechsstündige Fahrt von Kotor entlang der Dalmatischen Küste über Dubrovnik nach Mostar ist mit Gesellschaft viel interessanter und unterhaltsamer. Die Küstenstraße schlängelt sich dicht am Wasser in Richtung Norden. Es dauert allein fast eine Stunde, bis die Bucht von Kotor überwunden ist und man sich schließlich am offenen Meer entlang bewegt. An der kroatischen Grenze werden wir aufgehalten, weil zwei Nigerianer keinen montenegrinischen Einreisestempel haben. Normalerweise dauert die Passkontrolle bei ganzen sechs Fahrgästen nur Minuten, in diesem Fall pausieren wir aber eine geschlagene Stunde. Am Ende lässt man die Nigerianer nicht einreisen und der Bus fährt weiter. Nach wenigen hundert Metern fällt uns auf, dass die Pässe noch fehlen. Tino geht nach vorne, der Busfahrer flucht, steigt auf die Bremse und legt den Rückwärtsgang ein. Einige Sekunden später kommt schon ein Militärfahrzeug angebraust und man übergibt dem gestressten Busfahrer unsere Pässe. Aufgrund der Verspätung sehen wir Dubrovnik leider nur bei Nacht. Am Busbahnhof muss ich ein neues Ticket lösen, doch der Bus bleibt derselbe. Natürlich ist keiner mit den Vorschriften vertraut, wir besitzen kein kroatisches Geld und schließlich behilft man sich irgendwie. Auch Kroatien ist noch balkanesisch spontan und flexibel. Nur der Busfahrer ist leicht genervt. Sein Zeitplan ist ordentlich durcheinander geraten.


Die bosnische Stadt Mostar liegt in einem Flusstal in der Mitte der Herzegowina, eingerahmt von grünen Hügeln. Der Ort ist von Kroatien aus verhältnismäßig schnell erreicht und bietet den ersten nächtlichen Eindruck des Landes: Hausfassaden voller Einschusslöcher. Ein völlig ungewohntes Bild. Man führt sich automatisch vor Augen, dass hier vor gut 15 Jahren noch Krieg war. Auch ein erster Gang bei Nacht durch die Gassen des Städtchens führt vorbei an unzähligen Häusern, die immer noch schwer beschädigt sind. Und es sind keine vereinzelten, kleinen Löcher, die hier die Geschichte eines Konflikts erzählen, der eine Stadt gespalten hat. Es sind ganze Gebäude, die in einem schon fast regelmäßig erscheinenden Muster besprenkelt sind. Die Ruhe der Nacht wirkt fast etwas gespenstisch, wenn man sich vorstellt, dass es hier während des vier Jahre andauernden Krieges kaum Nächte gegeben haben kann, die nicht durch Schüsse und Kanonendonner zerrissen worden wären. An einer Hauptstraße jenseits des kleinen Flusses Neretva lag zur Kriegszeit die Hauptkampflinie. Hier ist noch jedes zweite Haus komplett zerstört. Dazwischen strecken sich neue, frisch renovierte Mehrfamilienhäuser in die Luft. Ein bizarrer Anblick, vor allem bei Nacht.
Und dennoch, die Moscheen der Stadt sind beleuchtet, ebenso die berühmte Brücke über den Fluss. Die Neretva trennt den bosniakischen vom kroatischen Teil der Altstadt. Hinter der kroatischen Altstadt reckt die Franziskanerkirche ihren neuen Beton-Turm in die Höhe, der alle Minarette der Stadt um Meter überragt. Die Politik hat hier auch die Religion instrumentalisiert, möchte man meinen.

Bei Tag betrachtet bietet Mostar schon ein etwas zuversichtlicheres Bild. Vor allem die gepflasterten Gassen der Altstadt wirken sehr idyllisch mit ihren Souvenirläden, den kleinen Restaurants und Handwerkergeschäften. Doch die Geschichte ist lebendig: Metallhandwerker stellen aus Patronenhülsen kleine und große Andenken für Weltreisende her. Aus Überresten des gegenseitigen Bombardements entstehen Kunstwerke, die ein Spektrum von liebevoll verzierten Kugelschreibern bis hin zu großen Blumenvasen umfassen. Sogar die ersten Touristen haben sich im März nach Mostar gewagt und besuchen die wunderschöne Altstadt. Alle suchen das begehrteste Fotomotiv der Stadt, die Stari Most (Alte Brücke). Eine jahrhundertealte Tradition bewegt junge Männer bis heute dazu, den 24 Meter tiefen Sprung in den eiskalten Fluss zu wagen. Traurige Berühmtheit erlangte das osmanische Bauwerk aus dem 16. Jahrhundert, als es im November 1993 gezielt durch kroatische Kräfte zerstört wurde. Hatten Bosniaken und Kroaten noch zuvor vereint gegen die serbische Armee gekämpft, so hatten Streitereien und Uneinigkeiten im Laufe der Auseinandersetzungen dazu geführt, dass sich nun Verbündete gegenüberstanden. Im Brückenmuseum nebenan kann man heute die Filmaufnahmen der Zerstörung anschauen. Durch die Zerstörung der Brücke wurde Mostar zerteilt in zwei Hälften.
Nach dem Krieg wurde die Alte Brücke wieder aufgebaut und 2004 feierlich eingeweiht. Die Menschen sind keine Feinde mehr, aber es ist kaum zu übersehen, dass außer den Touristen kaum jemand die smaragdgrüne Neretva an dieser Stelle überquert. Die Einheimischen bleiben jeweils auf ihren eigenen Seiten. Der Fluss ist so tief wie der Spalt zwischen den Bewohnern. Zwar wurde fast alles – auch mit ausländischer Hilfe – wieder aufgebaut. So wurden einzelne Moscheen und eine Schule vom saudi-arabischen Königreich gesponsert. Doch viele Menschen haben nachts noch den Kanonendonner in den Ohren. Die Häuserwände sind vielerorts ordentlich verputzt worden, aber in jeder Straße erinnern Löcher an den Beschuss. Im bosniakisch-muslimischen Teil der Stadt drängen sich an jede Moschee die weißen, spitzen Marmorgrabsteine derer, die zwischen 1992 und 1996 gestorben sind, jeder christliche Friedhof ist genauso überfüllt. Die meisten der Toten waren junge Menschen, ein Großteil der Grabsteine trägt das Todesdatum 1993.

Seit 2004 wird jedes Jahr der Friedenspreis von Mostar verliehen. Berühmte Träger waren unter anderen Vaclav Havel, Nelson Mandela und Mohammed el-Baradei. Mostar ist auf dem Weg der Besserung. Die Stadt macht – besonders bei einem sonnigen Spaziergang am Morgen – einen zuversichtlichen Eindruck. Doch sie ist auf eine gewisse Art und Weise immer noch geteilt. Narben von damals sind viele geblieben. Und auch im Esszimmer der Familie, bei der Tino und ich privat unterkommen, hängt an der Wand das Bild des Familienvaters. Ein Mann in Uniform, der aus dem Krieg nicht wieder gekommen ist. Seitdem ist die Familie auf den Tourismus angewiesen, jeden Tag steht Frau Nasumović am Busbahnhof und bietet Zimmer im zentral gelegenen Plattenbau an, vor dessen Treppenaufgang sich der Plastikmüll türmt. Die Wohnung ist sauber und die Wände geziert mit Bildern aller Arten, auf denen immer dasselbe Motiv zu sehen ist: Die Alte Brücke über die Neretva.

Dienstag, 27. März 2012

Montenegro - Ein kritischer Blick auf das neuentdeckte Joie de vivre einer Gesellschaft

Meine Reise durch Montenegro war nur kurz und hat sich auf die Küste beschränkt. So kam ich nach Kotor, in eine der schönsten Städte des Balkans. Sie ist nicht exemplarisch für das ganze Land, aber dennoch eröffnen sich hier Einblicke in die Gesellschaft Montenegros.
Mir ist zunächst aufgefallen, dass die Küstenregion Montenegros um ein Vielfaches teurer ist als die Länder, durch die ich bisher gekommen bin. Man bezahlt mit dem Euro. Busfahrten sind gut und gerne doppel so teuer wie in Albanien. Die Restaurants haben durchaus mitteleuropäisches Niveau. Auch die Menschen machen einen durchaus westlichen Eindruck. Die Montenegriner sind ein sehr junges - und modebewusstes - Volk. Die Frage kommt auf, ob wohl jeder Montenegriner das Einkommen hat um hier nach EU-Standards zu leben. Gibt es hier genug Arbeit? Wie sind die Löhne? Immerhin ist Montenegro unabhängig und hat den letzten Jahren viele Investoren ins Land gelockt.
Am letzten Abend klären sich einige der Fragen, als ich und ein paar andere Leute mit Miljan ins Gespräch kommen, dem Betreiber des Hostels. Er ist selbst Montenegriner und stammt aus Budva. Zuerst unterhalten wir uns auf einem sehr lockeren Niveau über Fußball, jeder macht seine Witze über die holländisch-deutsche Feindschaft. Beim Thema Feindschaft kommen wir auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Miljan versteht es nicht, dass die Italiener in dieser Gegend viel angesehener und willkommener seien als die Deutschen. Dabei haben damals doch beide an einem Strang gezogen. Er jedenfalls ist der Meinung, dass man sich einiges von den Deutschen abschauen könnte. Ich runzle die Stirn, wie man es als Deutscher im Ausland wohl des Öfteren tut, wenn es um den Zweiten Weltkrieg und die deutschen „Errungenschaften“ geht. Doch später verstehe ich, was er damit gemeint hat.

Miljan erzählt uns von der Wirtschaftlage seiner Heimat, von der Korruption und von Sportwetten. Es sei ja nicht so, dass jedes Fußballspiel in Europa gekauft sei. Aber alle zwei Monate bekommt man in Montenegro einen Anruf und weiß danach genau, auf welche Mannschaft der Dritten Deutschen Liga man setzen muss, um sein Einkommen zu verdoppeln. Alle seien korrupt, sagt Miljan. Die Fußballkultur im Land selbst sei durchzogen von Korruption, in ganz Ex-Jugoslawien würden bestimmte Spielergebnisse schon Wochen vorher feststehen. Wenn zum Beispiel zwei Teams demselben Geschäftsmann gehören. Das Hinspiel gewinnt dann die eine, das Rückspiel die andere Mannschaft.
Doch die Mentalität sei ja nicht nur auf Fußball begrenzt. Die ganze Politik sei in kriminelle Machenschaften verwickelt. Die Wirtschaft in Montenegro ist praktisch gelähmt. Keiner weiß so recht wohin. Natürlich gebe es Investoren. Im Land gibt es wenig Industrie, Fabriken würden aufgekauft und danach geschlossen, weil es sich nicht lohne, sie weiter zu betreiben. Dadurch würden immer mehr Menschen arbeitslos. Im Norden, meint der Hostelbetreiber, seien die Menschen arm und könnten sich keine neuen Schuhe leisten.
Nach der Loslösung von Serbien und der Unabhängigkeit Montenegros im Jahre 2006 sind viele – vor allem russische – Investoren ins Land gekommen. Miljan sieht aber vor allem den Tourismus auch mit einem kritischen Auge. Die russischen Millionäre würden das Landschaftsbild zerstören durch ihre gigantischen Hotelkomplexe, in denen kein westlicher Tourist wohnen wolle. In seiner Heimatstadt Budva hat er es beobachtet. Es gibt keine Regeln, keine Bauvorschriften. Und selbst wenn es welche gibt, dann kann man sich Ausnahmen erkaufen für billiges Geld.
Montenegros Wirtschaft bräuchte einen Aufschwung. Serbien hat mit Bar einen wichtigen Hochseehafen verloren. Man bräuchte nur eine ausgebaute Strecke von Bar nach Serbien, meint Miljan. Die hat man auch versucht zu bauen. Im Jahr 2009 sollte offiziell mit dem Bau begonnen werden. Verträge bestanden, Politiker kamen um den Bau einzuweihen. Die Presse war in Scharen vertreten. – Nach zwei Tagen wurden die Bauarbeiten eingestellt. Die Verträge mit den kroatischen Baufirmen waren gekündigt worden. Seitdem steht das Projekt still.
Hinter der Maskerade der Politik verbirgt sich ein verrottetes System. Was Montenegro fehle sei Arbeitsmoral, erklärt er uns. Und hier beginnen wir zu verstehen, was er mit den „guten Seiten“ der Deutschen gemeint hat. Er hatte es nicht auf den Krieg bezogen, sondern eher auf die Tugenden. Die Menschen in Montenegro, von jung bis alt, würden sich nur für Sportwetten, Casinos und italienische Mode interessieren, meint Miljan. Niemand will mehr arbeiten. Er selbst habe im Sommer noch Strandaufseher gesucht, die in Budva für ihn arbeiten sollten. Seine Freunde hatte er gefragt, ihnen gesagt, sie müssen sich keine Sorgen um die Arbeitszeiten machen, er wäre dann ja schließlich der Chef und könne ihnen Freiheiten verschaffen. Aber er hat auch unter seinen Freunden niemanden gefunden, der arbeiten will. Die Regierung ist kein Vorbild. Anstatt Bürokratie abzubauen und Staatsschulden zu tilgen würden zugelassen, dass immer mehr Menschen in den Staatssektor drängen. Als Beamter verdiene man gutes Geld mit verhältnismäßig wenig Arbeit, meint Miljan. Die Menschen würden außerdem den Wohlstand des Westens sehen und genauso leben wollen. Sogar im armen Norden würde man für die neueste Mode Geld ausgeben, obwohl es für die Miete schon knapp wird.

Dieses abendliche Gespräch hat uns ins Grübeln gebracht. Natürlich, die Sicht eines Einzigen auf die Masse der Bevölkerung ist für keine Statistik repräsentativ. Aber dennoch betrachteten wir Montenegro jetzt aus anderen Augen. Denn ein bisschen etwas Wahres scheint tatsächlich dran zu sein. Kotor ist nicht nur ein Anziehungspunkt für Touristen, die von Budva aus einen Tagesausflug machen, sondern auch für die einheimische Jugend. In den Cafés sitzen fast ausschließlich junge Leute. Diese Generation verkörpert dieses ganz besondere
Joie de vivre, das sich deutlich von den Ländern unterscheidet, die ich bis jetzt auf meiner Reise besucht hatte. Die Cafés sind vormittags schon gefüllt. Abends haben die Discos Hochbetrieb. Während ich mittags um halb eins auf einem der kleinen Plätze Kotors eine Pizza esse, sitzen ein paar Tische weiter einige junge Montenegriner mit italienischen Sonnenbrillen, gestylten Freundinnen und einem Gläschen Whiskey on the Rocks…
Und an den Souvenirständen gibt es Postkarten, die in mindestens 5 Sprachen die „10 Gebote der Montenegriner“ verbreitet. Auf billigem GoogleTranslator-Deutsch wird hier erklärt, warum es sich nicht lohnt, morgens früh aufzustehen oder warum Arbeit zu einem frühzeitigen Tod führen kann. Das alles erscheint mir jetzt, im Rückblick auf die "Insider-Informationen" eines Hostel-Betreibers, ein wenig skurril.

Es scheint schon ein bisschen so, als könnte man in Montenegro gut und auf hohem Niveau leben… und manchmal auch über seinen Kosten. Allerdings wäre hier durchaus Potenzial für mehr da: Ein wunderschönes Land mit einer atemberaubenden Küste, einer interessanten Geschichte und glasklarem Wasser - vielleicht bräuchte man hier einfach mehr deutsche Investoren. Und der Zeitpunkt wäre günstig. Die Zeit der gigantisch hohen Immobilienpreise hat um 2005 ihren Höhepunkt erreicht. Jetzt hingegen wäre wieder der richtige Zeitpunkt, um sich ein schönes Häuschen für die Rente zu sichern. ;)

Reisebericht Montenegro

Das nächste Ziel meiner Balkanreise trägt den klangvollen und vielversprechenden Namen „Montenegro“ – schwarzer Berg. Eine faszinierende Küste mit ansehnlichen kleinen Städten, guten Restaurants und unvergesslichen Sonnenuntergängen.
Meine Fahrt in dieses unbekannte Feriendomizil war jedoch mehr als kompliziert. Ich trat meine Weiterreise von Tirana in Albanien aus an, wo ich nach der Rückkehr aus dem Kosovo nochmals eine Zwischenstation einlegen musste. Die zweieinhalbstündige Fahrt mit dem Sammeltaxi nach Shkodra im Norden des Landes kostete umgerechnet ganze 2,80 €, lächerlich gegen das, was noch kommen sollte. Denn das war ja nur erst die erste Etappe: Von Shkodra wollte ich irgendwie nach Montenegro rüberkommen – kein Problem, Taxis gab es ja genug. Aufgrund der hohen Spritpreise und meines mangelhaften Verhandlungsgeschicks betrugen die Fahrtkosten bis zur Grenze etwa das Fünffache der bisher zurückgelegten Strecke. An der Grenze selbst wartete schon ein weiterer Taxifahrer, der mich für weitere 20 € durch die Kontrollen und dann bis nach Ulcinj bringen wollte. Kaum waren wir zehn Meter gefahren, wollten die Grenzer die (nicht vorhandene) Lizenz meines Chauffeurs sehen. Ich musste im Auto warten und hatte das Schild mit der Aufschrift „Dobrodošli u Crna Gora!“ („Wilkommen in Montenegro!“) schon vor der Nase. Nach einer Viertelstunde ging es weiter. Wie er die Angelegenheit geregelt hat weiß ich nicht. Wahrscheinlich hatte er etwas von dem Betrag, den er an mir verdienen würde, an den Beamten abtreten müssen. Aber hey, wir sind auf dem Balkan…

Der erste Eindruck von Montenegro war rot. Die rötliche Erde an der Straße nach Ulcinj war durch Verbesserungsarbeiten aufgewühlt, überall waren noch Schlaglöcher. Doch das Taxi bahnte sich seinen Weg geschickt in Richtung Küste, durch die ersten tiefen Täler und vorbei an den spärlich bewaldeten Bergrücken. Von der Küstenstadt Ulcinj selbst sah ich relativ wenig, denn mein Ziel war die „autobuska stanica“. So muss ich mich auf mein schlaues Buch verlassen, das von einem Touristenansturm aus dem Kosovo berichtet, der hier im Sommer einsetzen soll. Die Kosovaren würde eher hier Urlaub machen als in Albanien. Grund? – Die Küste hier soll um ein Vielfaches schöner und sauberer sein.

Mein Reiseziel für diesen Tag war Kotor, was im nördlichen Küstenabschnitt von Montenegro liegt. Ich wusste nicht, wann und wie die Busse fahren würden und verließ mich auf mein Gefühl. Mein Gefühl hat mir aber auch einige Stunden an Wartezeit eingebracht. Außerdem erwiesen sich die montenegrinischen Busse um ein Vielfaches teurer als die auf dem südlichen Balkan. Doch schließlich fuhr ich erst von Ulcinj nach Budva, entlang der atemberaubenden Küste, und dann weiter nach Kotor. Es wurde gerade dunkel, als ich vor der Stadtmauer an der Touristeninformation nah einem Zimmer anfragte und auch gleich weitervermittelt wurde an das örtliche Hostel.

Kotor selbst ist eine Kleinstadt, die man innerhalb ihrer Stadtmauern in fünf bis acht Minuten durchqueren kann. Sie ist sehr aufgeräumt und erinnert irgendwie an Italien. Kein Wunder, die Hafenstadt war vier Jahrhunderte lang im Besitz der Venezianer, an die noch der verfallene mittelalterliche Friedhof außerhalb der Mauern erinnert, der jedoch von niemandem mehr wahrgenommen wird. In den für Balkan-Verhältnisse recht teuren Restaurants finden sich Spezialitäten wie Lignje (gebratene Tintenfische), der berühmte Salata od hobotnice (Tintenfischsalat) und viele andere Fischgerichte. Montenegro ist für seine mediterrane Küche berühmt. Hier ist alles frisch, das Meer liegt vor der Haustür. Ich esse meine traditionellen Meeresfrüchte-Spaghetti, deren Qualität ich seit Jahren in jedem Land ausprobieren muss, das eine Küste hat. In Kotor sind sie sogar so frisch (und fischig), dass es mir schon fast zu viel ist.


Die Stadtmauer umschließt auch die Ruinen einer Festung, die sich in luftiger Höhe auf dem Berg befinden und einen einzigartigen Blick über die Bucht von Kotor bieten. Diese Bucht wird in jedem Reiseführer als ultimatives Highlight Montenegros angepriesen. Und der Reiseführer lügt nicht. Ich hätte mir nie vorstellen können, wirklich einmal hier zu sein, aber der Blick ist traumhaft. Der Aufstieg zur Festung fordert allerdings einige Anstrengung und ist ab der Hälfte gesäumt von Schildern, die vor der Instabilität des alten Gemäuers warnen. Alle hundert Meter wird es eine Stufe gefährlicher. Im März, außerhalb der Saison, ist die Besichtigung noch kostenlos. Während des Sommers werden dem Touristen mitteleuropäische 3 € abverlangt. Oben angekommen blickt man hinunter auf die Bucht von Kotor, die zusammen mit der Stadt und ihrem Hafen umschlossen ist von Bergen, die von Meeresniveau ohne Anlauf die 1.800-Marke erreichen und ihre schneebedeckten Gipfel in der Sonne glänzen lassen. Kotor selbst ist so sehr an den Berghang gepresst, dass die Stadt sich dem Blick fast komplett entzieht. Nur die große Kirche mit ihren zwei Türmen lässt sich ausmachen. Sie erzählt die katholische Geschichte der Stadt, die lange Jahre durch Italiener und Kroaten geprägt wurde. Heute ist die Bevölkerung jedoch mehrheitlich orthodox. Während der osmanischen Jahre des Balkans hat sich Montenegro stets seine Autonomie gewahrt. Da schweifen die Gedanken ein wenig ab, während man auf den ruinösen Überresten der Festung steht, und man malt sich aus, wo wohl die Grenzen der venezianischen Stadt Kotor damals gewesen sein mögen, und wie sich der Gouverneur der Stadt wohl gefühlt hatte, wenn er hier oben stand und auf sein kleines Reich herunterblickte. Unten in der Stadt erzählt das Marinemuseum von der Seefahrergeschichte, zeigt die Wappen der adligen italienischen Familien und bietet eine Reihe von Schiffsmodellen. Als Hafenstadt war Kotor bis ins späte 19. Jahrhundert von Bedeutung und auch darüber hinaus.
Heute treibt es vor allem Touristen nach Kotor. Die meisten von ihnen machen in Budva Strandurlaub, wollen sich die kulturell-historischen Leckerbissen Montenegros jedoch nicht entgehen lassen und kommen so für einen Tagesausflug in die Kleinstadt mit ihren vielen Cafés und den zahlreichen Modegeschäften in den engen Gassen. Man kann den einen oder anderen Souvenirkauf tätigen. Ich schwanke zwischen einer montenegrinischen Wurst vom Markt vor dem kleinen Stadttor oder einem Wein aus dem Supermarkt. Da ich aber nicht den Rest meiner Reise mit einer an meinem Rucksack baumelnden Räucherwurst verbringen will, entscheide ich mich für den Wein und suche im Supermarkt nach zwei Flaschen, die weder deutsche noch englische Beschriftung aufweisen und kann schließlich auch Montenegro zufrieden auf meiner Souvenir-Liste abhaken.

Im Hostel von Kotor treffe ich kurz darauf auch einen angehenden Erdkundelehrer aus Hamburg. Auch er reist durch den Balkan, besucht jedoch bevorzugt Fußballstadien und fotografiert Bahnhöfe. Im Grunde tun wir dasselbe, nur dass ich Museen besuche und Moscheen fotografiere. So hat jeder sein eigenes Interessengebiet. Er ist mit dem Zug von Belgrad aus gekommen und reist weiter nach Bosnien, um in Sarajevo ein Fußballspiel zu sehen. Diese Route von Belgrad aus nehmen viele, fällt mir auf. Ich bin bis jetzt der einzige, der von Süden kommend zu dem Heer der Rucksacktouristen stößt, die sich ihren Weg nach Sarajevo oder Zagreb bahnen.
Mit Tino trinke ich ein (unerwartet teures) Bier in einer montenegrinischen Kneipe und schaue das Europapokalspiel zwischen Schalke 04 und Twente Enschede. Als eingefleischter Schalke-Fan wird er am nächsten Morgen ebenfalls die Festung erklimmen und an den Fahnenmast einen Sticker seines Lieblingsvereins kleben. Ich bin da zum Glück nicht dabei, diese Wanderung habe ich schon hinter mir. Außerdem würde mein Schwabenherz es nicht aushalten, den Schalke 04 an der höchsten und schönsten Stelle Montenegros prangen zu sehen…
Trotz der großen kulturellen Unterschiede zwischen mir und dem Hamburger entschließen wir uns, am nächsten Tag gemeinsam mit dem Bus weiter in Richtung Mostar zu fahren.

Donnerstag, 22. März 2012

Israel und der Iran

Die politische Lage – äußerst verfahren…

Seit Monaten sind die Nachrichten voll davon: Israel wird den Iran angreifen, die Frage ist nur noch wann. – Ich selbst habe ein Jahr lang in Israel gelebt und habe erfahren, wie Kriegsgerüchte die Runde machen. „Im Sommer“, hieß es. „Diesen Sommer wird es Krieg geben.“ Man wisse nur noch nicht mit wem. Syrien wurde damals als Kriegsgegner hoch gehandelt. Schlussendlich gab es dann doch keinen Krieg.

Die Medien spielen in den heutigen Konflikten eine große Rolle. Es wäre interessant zu wissen, wie sich die Lage dermaßen zuspitzen konnte. Seit Jahren ist bekannt, dass die iranische Regierung unter Mahmud Ahmadinedschad kein großer Freund des „zionistischen Regimes“ in Jerusalem ist. Und es ist auch kein Geheimnis, dass der Iran irgendwo in tiefen, durch Felsgestein geschützten Bunkern an radioaktiven Materialien herumexperimentiert und waffenfähiges Uran anreichert.
Jetzt bleiben ein paar Möglichkeiten zur Spekulation offen.
Entweder: Der Iran baut die Atombombe und will Israel vernichten.
Oder: Der Iran will nur eine stabile Energieversorgung errichten und damit wirtschaftlich einen großen Fortschritt erzielen.

Der Iran ist – politisch gesehen und im Hinblick auf seine Haltung gegenüber Israel –ein genauso explosives wie interessantes Territorium. Einerseits wird hier jedes Jahr ein sogenannter „Jerusalem-Tag“ abgehalten, bei dem man den „Zionisten“ den Tod wünscht. Andererseits wurde in den Medien auch allerhand Material falsch übersetzt: So sagte der für seine Hasstiraden berüchtigte Präsident nicht etwa, Israel müsse von der Landkarte gefegt werden. Dieser Satz wird nämlich meistens so zitiert und ist aus dem Kontext gerissen. Ahmadinedschad sagte in Wirklichkeit etwas in dieser Art: „Der Imam sagte, dass das Regime, das Jerusalem besetzt, von den Tafeln der Zeit verschwinden muss.“ Auch nicht ohne politische Wertung, aber keinesfalls ganz so teuflisch wie die in den Medien verbreitete Falschübersetzung.
Nichtsdestotrotz macht sich Ahmadinedschad bei jeder Gelegenheit daran, den Holocaust als eine „Lüge der Zionisten“ zu bezeichnen und ihn als erfundene Begründung für das Entstehen Israels zu entlarven. Erst kürzlich behauptete der iranische Präsident im Interview mit dem ZDF, dass in Europa nicht frei über den Holocaust geforscht werden könne. Er bezeichnete die Israelis als kulturlose Menschen und fragte, warum Europa bedingungslos hinter den Zionisten stehe. Im gleichen Interview behauptete er, der Iran würde nicht an der Atombombe bauen, denn diese Art von Waffen sei unmoralisch und für die heutige Zeit nicht mehr geeignet.

Werfen wir einen Blick auf die israelische Seite. Hier ist man sich scheinbar sicher, dass der Iran die Bombe baut oder schon lange hat. Israel hat seinerseits niemals zugegeben, selbst Atomwaffen zu besitzen. Die meisten Beobachter vermuten aber dennoch, dass es irgendetwas geben muss auf dem umzäunten Gebiet bei Dimona in der Negev-Wüste. Aber auch hier bewegen wir uns im Bereich der Spekulation.
Was die wenigsten wissen: Israel soll in den 1960er Jahren sogar selbst am Aufbau eines iranischen Atomprogramms unter dem Schah beteiligt gewesen sein! Das ließe also die Vermutung offen, dass die Israelis wissen, was sich in den Hangars und Labors der Iraner verbirgt…
Spekulationen sind auch die mysteriösen Tode mehrerer iranische Nuklearforscher, die sich in letzter Zeit häufen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Mossad mit diesen Aktionen in irgendeiner Verbindung steht.
Israel besteht auf seinem Recht auf Selbstverteidigung, auch wenn diese präventiv sein sollte. Die israelische Armee ist zweifellos für einen Militärschlag gerüstet. Und wie der Verteidigungsminister Ehud Barak (ebenfalls im ZDF) am 20. März erklärte: „Wir sagen klipp und klar, es ist keine Frage von Wochen und keine von Jahren. Sicher ist, 2012 ist ein enorm wichtiges Jahr in dieser Hinsicht.“

Da müssen eingefleischte Pazifisten ziemlich heftig schlucken. Israel scheint bereit für einen Erstschlag zu sein, der Iran wartet auf den Gegenschlag. Und die ganze Welt schaut zu…
Wollen wir doch einmal ein paar zusammenfassende Fragen stellen:
Sollte der Iran Atomwaffen besitzen, warum ist dies ausgerechnet und allein ein Problem Israels?
Sollten nicht die UNO oder irgendeine höhere Instanz (die Amerikaner?) noch vor Israel aktiv werden?
Andererseits, sollte der Iran wirklich nur ein paar (funktionierende) Meiler bauen wollen, wer sollte ihn davon abhalten dürfen?
Außerdem: Wenn dem Iran – wie er ja immer wieder behauptet – das Wohl der Palästinenser am Herzen liegen würde, welchen Ort in Israel würde eine iranische Rakete anvisieren, damit kein Palästinenser zu Schaden kommt? Mit Atomraketen ein sehr, sehr schwieriges Vorhaben…

Fazit: Egal wie, wann und wo es passiert, ein Krieg kann keinem nützen. Die Lage könnte eskalieren. Das iranische Volk würde - trotz aller politischen Unzufriedenheiten - geeint werden im Kampf gegen Israel. Die USA würden nicht untätig zusehen, sollte Israel angegriffen werden. Und vielleicht müsste gar Deutschland eingreifen...?
Kurzum: Der Dritte Weltkrieg oder so etwas in die Richtung wäre nicht auszuschließen.

Und das alles wegen einem Machtspiel und (k)einer Atombombe?


Der Iran und die Juden

Bei allen politischen Betrachtungen darf man jedoch nicht übersehen, dass der Iran sehr wohl einen Unterschied macht zwischen „den Zionisten“ und den Juden selbst. Als bloßer Antisemitismus ist die Haltung der Mullahs und die des Herrn Ahmadinedschad nicht abzutun. Man muss einen Blick auf die Geschichte zurückwerfen um zu begreifen, dass es nie größere Pogrome oder Vertreibungen im Iran gegeben hat. Auch sind diejenigen Juden, die vom Iran aus nach Israel oder in die USA emigrierten, nicht geflohen und wurden auch nicht aus dem Land geworfen. Die persischen Juden sahen den Iran als ihre Heimat an – und tun es bis heute. Die jüdische Gemeinde im historischen Persien besteht seit nahezu 3.000 Jahren – ununterbrochen.

Als ich im September 2011 am Busbahnhof in Eilat im Süden Israels auf meinen Bus wartete, beobachtete ich eine Frau, die mit dem Handy telefonierte. Sie sprach nicht Hebräisch und auch nicht Arabisch. Der Kiosk-Besitzer schien zu wissen, welche Sprache das sei. Er fragte sie auf Englisch, woher sie käme. Aus dem Iran, antwortete sie. Ich war überrascht. Eine Iranerin in Israel, in diesen Zeiten. Ich wurde hellhörig und wollte wissen, wie dieser Dialog ausgeht. Allerdings habe ich von der nächsten Konversation nichts verstanden. Der Israeli am Kiosk sprach fließend Persisch. Und er war keineswegs feindselig. Wahrscheinlich hatte er sich gefreut, endlich mal wieder mit jemandem in der Sprache reden zu können, mit der er aufgewachsen war. Er war ein Mann Ende vierzig. Vielleicht waren seine Eltern aus dem Iran nach Israel eingewandert, vielleicht war er selbst noch in Schiras oder Teheran geboren.

Das alles weiß ich nicht. Was ich aber weiß ist, dass Israelis und Iraner sehr wohl freundlich miteinander reden können. Viel mehr noch: Allein aufgrund der historischen Verbindung, die lange bis vor die Islamische Revolution 1979 oder auch die Staatsgründung Israels 1948 zurückreicht, müsste es möglich sein, dass zwischen Völkern eine Freundschaft entstehen.

Aber Politik wird nicht von Völkern gemacht, sondern eben von Politikern…


Eine Facebook-Kampagne

Politik ist Politik – und daran können einzelne, klar denkende Menschen wohl nichts ändern. Oder etwa doch? Mitte März startete der Tel Aviver Designer Ronny Edry die Facebook-Kampagne
„Israel loves Iran“ mit einem Bild, das ihn mit seiner fünfjährigen Tochter auf dem Arm zeigt. Fernab jeder Politik drücken seitdem Israelis und Menschen aus der ganzen Welt ihre Freundschaft gegenüber dem iranischen Volk aus. Bei Iranern in der ganzen Welt stößt diese Kampagne auf positive Gegenliebe. Ist es möglich, dass hier Menschen die Initiative ergriffen haben und vielleicht sogar die Chance besteht, Schlimmeres zu verhindern? Vielleicht muss ein wenig Revolutionsgeist nicht immer in einer Revolution und schier unbezwingbarem Chaos enden. Vielleicht kann man auch einfach nur Zeichen setzen und damit die Welt verändern.

Und man bedenke auch noch etwas anderes: Sollte es Israel bzw. den Israelis gelingen, mit dem Iran auf diplomatischer Ebene auf eine gewaltfreie Lösung zu kommen, könnte man sich dann nicht mit noch größerer Motivation daran machen, endlich eine Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern zu finden?

http://www.israelovesiran.com/israel-loves-iran/

Skopje, das Klein-Istanbul Mazedoniens

Die Stadt hat aus Stein erbaute und mit Gewölben und Kuppeln gezierte Markthallen und Bazare, in denen 2.150 Kaufläden untergebracht sind. Die Gassen sind sauber gepflastert. Jeder Kaufstand ist mit Hyazinthen, Veilchen, Rosen, Narzissen, Basilienkraut, Flieder und Lilien geschmückt, die in Krügen oder Kästen stehen.

Bei heftiger Hitze ähneln die Bazare den Serdab [kühlen Sommerräumen] in Bagdad, denn die Bazare sind wie die in Sarajevo und Aleppo ganz und gar mit Bogengewölben erbaut. Es gibt armenische, bulgarische, serbische und jüdische Gotteshäuser. Solche für die Franken, Madjaren und Deutschen gibt es nicht. Es gibt jedoch ziemlich viel Lateiner [Katholiken] da. Die muslimischen Einwohner sprechen meist türkisch und albanisch. Sie haben eine besondere Mundart. Sie gebrauchen dunkle und abgewandelte Ausdrucke. Sie sprechen aber mit einer besonderen Anmut.
Es ist wirklich eine saubere Stadt, denn alle Hauptwege sind gleichmäßig weiß gepflastert. Es gibt sehr viele Notabeln, Vornehme und Angesehene da. Sie, die Stadt, ist ein Ort, wo Dichter wohnen und wo man die Armen liebt; die Leute lieben Genuss und Lebensfreude, und Liebe und Leidenschaften gehören auch dort zum Besitz des liebeskranken Herzen.

So beschreibt der osmanische Reisende Evliya Çelebi die mazedonische Hauptstadt Skopje, die damals im 17. Jahrhundert den türkischen Namen Üsküp trug. Der Osmane war fasziniert und hingerissen von der Stadt am Vardar-Fluss, was in vielen seiner Berichte herauszuhören ist.
Seinen Charme hat Skopje bis heute nicht verloren. Von Prishtina aus, der Hauptstadt des Kosovo, bewegte ich mich nach Süden. Per Überlandbus geht es in Richtung Mazedonien. Zwischen den noch schneebedeckten Felder und bewaldeten Hügel habe ich mich auf jener Route wiedergefunden, die schon Çelebi im Jahre 1660 auf seiner Reise durch den Balkan nahm. Bis heute haben sich die Zeiten natürlich geändert. Man kommt schneller und weniger romantisch voran im voll besetzen Reisebus. An der Grenze bekommt der deutsche Reisepass keinen Stempel, wahrscheinlich aus Respekt. Nach dem Grenzübertritt ist man in einer guten halben Stunde in der Hauptstadt Mazedoniens, einem Land, über das man genauso wenig weiß wie über das Kosovo. Meistens weiß man nur, dass hier Alexander der Große geboren wurde. Aber auch das entspricht nicht der historischen Wahrheit, und zwischen Mazedoniern und Griechen besteht bis heute ein Streit, wo denn das ursprüngliche Königreich des großen Feldherrn gelegen habe. Den Unterschied zwischen Mazedonien und dem griechischen Makedonien markiert lediglich ein Buchstabe.

Nach dem Grenzübertritt wechselt die Schrift an den Plakatwänden langsam zum Kyrillischen. Ansonsten ändert sich wenig. Auch Skopje selbst überrascht auf den ersten Blick wenig: sozialistische Plattenbauten, eingepfercht zwischen Hügeln. Ein Nebel liegt über der Stadt.
Und doch, sobald man Skopje näher erkundet, wird man auf viele kleine Schmankerl stoßen. Ein Spaziergang geht in der Fußgängerzone los, am großen Triumphbogen und dem überdimensionalen Alexander-Denkmal. Der Taxifahrer, der kaum Englisch konnte, hat mir zuvor mit den Fingern und einem Kopfschütteln zu verstehen gegeben, dass die Regierung hier auf Kosten des Volkes Geld aus dem Fenster geworfen hat. Reine Geldverschwendung, diese Machtdemonstration. Aber irgendwas haben diese monumentalen Kunstwerke. Sie lassen den Betrachter an andere europäische Großstädte denken. Dabei hat Skopje das eigentlich gar nicht nötig. Denn jenseits des Flusses liegt die Altstadt, das alte Üsküp. Überschreitet man die Kamen-Most-Brücke, so steht man am Fuße des Hügels, wo die alte Festung über der Stadt thront, und kann seinen Rundgang durch das Basarviertel, die Čaršija, beginnen. Hier reihen sich alte, zweigeschossige Häuschen aneinander, in denen sich Souvenirshops, Dönerbuden, Antiquitätenläden und Cafés verbergen. Die gepflasterten Gassen führen vorbei an unzähligen Moscheen, ehemaligen Hamams (Dampfbäder) und an Karawansereien, in denen sich heute meist Restaurants befinden. Eine oft nicht wahrgenommene Sehenswürdigkeit ist der Bezisten. Hier befand sich vor Jahrhunderten ein überdachter Markt. Der Gebäudekomplex fällt dem einen oder anderen Besucher durch die Symmetrie seiner Gänge auf. Heute sind auch hier vorwiegend Cafés zu finden.

Skopje ist eine multikulturelle Stadt. Viele Straßenschilder in der Altstadt weisen neben der mazedonischen auch eine albanische Beschriftung auf. Skopje ist die Heimatstadt der Mutter Teresa, die selbst aus einer katholisch-albanischen Familie stammte. Heute sind jedoch über 60% der Bevölkerung Mazedonier und somit orthodoxe Christen. Die jüdische Minderheit, die gut in die städtische Gesellschaft eingegliedert war, wurde im Zweiten Weltkrieg nahezu ausgerottet. An sie erinnert heute das nagelneue Holocaust-Gedenkmuseum, das sich am Eingang auf Mazedonisch, Englisch Hebräisch und Ladino, der spanischen Sprache der südosteuropäischen Juden, als Gedächtniszentrum zu erkennen gibt. Juden gibt es in Skopje heute nur noch eine Handvoll. Auch die albanischen Katholiken bilden eine eher kleine Minderheit. Sogar der Islam hat seine führende Rolle aus früheren Zeiten verloren. Heute machen die größtenteils muslimischen Albaner etwa 20% der Bevölkerung aus, außerdem leben in der Stadt noch über 8.000 Türken. In osmanischen Jahren gab es hier 70 Moscheen und dutzende Koranschulen. Viele der Gotteshäuser sind in keinem besonders guten Zustand mehr, andere wurden detailgetreu und liebevoll restauriert. Für Moscheenliebhaber bietet sich hier einiges: Die Ishak-Bey-Moschee (1439) liegt gleich neben der großen Hauptstraße, umringt von einem kleinen, mittelalterlichen Friedhof und der Türbe (Mausoleum) des Stifters. Die Isa-Bey-Moschee (1475) liegt im Viertel auf der anderen Seite der Verkehrstrasse und wartet mit einem frischen, gelb-grünen Ton auf. Der dicke Baum im Vorgarten des Gebäudes steht dort angeblich schon seit dem Bau der Moschee und soll der älteste Baum Skopjes sein.

Die Sultan-Murat-Moschee liegt auf einer Anhöhe gegenüber dem Festungs-Hügel und macht einen düsteren Eindruck. Ein älterer Herr führt mich herum. Er hat gerade den Rasen gemäht und spricht nur „makedonskij“. Aber er öffnet mir die Tür und knipst das Licht an. Die Moschee selbst ist ziemlich groß und hat Platz für viele Beter. Sie stammt aus dem 15. Jahrhundert und ist somit eine der ältesten islamischen Gotteshäuser der Stadt. Berühmt ist aber vor allem ihr Uhrturm aus roten Ziegeln, der gleich daneben steht und an einen Leuchtturm von der Ostsee erinnert. Er ist auf unzähligen Postkarten vom Anfang des letzten Jahrhunderts zu sehen.


Zwischen der Sultan-Murat-Moschee und der Altstadt liegt der große Markt. Auf dem Bit Pazar finet man neben frischem Gemüse auch reichlich Zigaretten und Sonnenbrillen. Hier wimmelt es von Menschen verschiedenster Nationen, auffällig sind jedoch die vielen türkischen Touristen. Skopje scheint noch heute eine starke Verbindung zur Türkei zu haben, was sich an den Namen einiger Institute, Moscheen und restaurierten Kulturdenkmälern ablesen lässt. Es erinnert auf gewisse Weise an Istanbul. Und der Name Üsküp lebt weiter, auch wenn der osmanische Glanz seit gut 100 Jahren vorbei ist.

Der Gang zur Festung hinauf ist nicht allzu lohnenswerte, denn das Gemäuer ist für Besucher geschlossen, wie ein provisorisches Schild zu verstehen gibt. Dafür kann man einen Blick auf das Fußballstadion erhaschen und einen Blick in die Mustafa-Paša-Moschee erhaschen, bevor man sich zurück in die Gassen der Altstadt macht.

Leider hatte ich auf meiner Reise für diese interessante und durchaus faszinierende Stadt nicht genug Zeit. Man kann den ganzen Charme und den Rhythmus von Skopje nicht innerhalb eines einzigen Tages fassen, doch man bekommt zumindest das Gefühl, dass schon hier der Orient beginnt. Obwohl die Geschichte auch hier oftmals Zerstörung mit sich gebracht hat – sei es der von den Österreichern verursachte Große Brand 1689, das verheerende Erdbeben von 1963 oder die Auseinandersetzungen von 2001, die letzte Nachwehe der Jugoslawienkriege – ist viel von der erstaunlichen Mischung verschiedener Kulturen erhalten geblieben. In den sauberen Gassen der Altstadt, zwischen den Minaretten und bleidächernen Kirchen, da weht noch immer die Seele des osmanischen Üsküp, des albanischen Shkup und des modernen mazedonischen Skopje.

Dienstag, 20. März 2012

Kosovo - Ein Staat im Aufbruch

Der Bus verlässt Tirana am frühen Nachmittag. Eine lange Fahrt steht uns bevor ins Kosovo, wo vermutlich noch Schnee liegt. Sonnenschein begleitet die erste Etappe in Richtung Norden. Dank des neuen Highways braucht man nach Prishtina nicht mehr zehn, sondern nur noch sechs Stunden. Die Strecke zieht sich, es geht in die Berge. An einem breiten Fluss entlang windet sich die Straße vorbei an kleinen Siedlungen und einzelnen Höfen. In Nordalbaniens Dörfern und Kleinstädten herrscht neben den normalen Gesetzen des Staates noch ein anderes: der Kanun. Hier, in einer recht unübersichtlichen Gegend, in der über die Jahrhunderte nicht einmal die Osmanen die volle Kontrolle erlangen konnten, erhielten sich alte albanische Bräuche und Gesetze, die in der Antike entstanden waren. Bekannt ist das traditionelle albanische Gewohnheitsrecht vor allem durch die Blutrache. Nachdem der Kommunismus das Stammesgesetz weitgehend gebannt hatte, erinnerten sich viele Bewohner in den 1990er Jahren wieder daran, wer vor dem Krieg wen ermordet hatte und aus welchem Grund. So kommt es, dass einzelne Personen, Familienoberhäupter, Söhne, heute keinen Schritt mehr aus ihrem Haus machen können aus Angst, von einem Mitglied einer verfeindeten Sippe getötet zu werden. Ein weiterer Faktor, der das unbekannte Albanien noch rätselhafter erscheinen lässt.
Während man der Grenze näher kommt, häufen sich die unregelmäßig in die Landschaft gesetzten Bunker. Früher begann hinter den Bergen Jugoslawien. Doch 2008 wurde das Kosovo mit seiner größtenteils albanischen Bevölkerung nach einem Jahrzehnts des Krieges und der anschließenden Unsicherheit unabhängig. An der Grenze gibt es einen Einreisestempel in den Pass, der Busfahrer bringt die Dokumente zurück in den Bus. Er ruft alle namentlich auf, findet meinen Nachnamen in meinem Reisepass nicht. Er runzelt die Stirn, plötzlich nickt er jedoch, als habe er gefunden was er suchte. „Deutsch!“, ruft er. Das ist zwar nicht mein Name, aber ich weiß wer gemeint ist.
Bei Dunkelheit erreiche ich Prizren. Aus dem Bus heraus trete ich in eine tiefe Pfütze. Fuß nass. Dafür spricht der Taxifahrer einige Brocken Deutsch, hat sogar eine Zeit lang in Tübingen gearbeitet. Ich wollte das angeblich ebenfalls deutschsprachige Hotel Tirana ausprobieren, weil es in Prizren ansonsten nicht viele Möglichkeiten gibt. Aber der Eingang macht keinen geöffneten Eindruck. Tatsache: „Hotel nix arbeiten“, sagt mir der Taxifahrer und grinst. Für eine Hand voll Euros fährt er mich zu einem Motel, das zwar keinen Preis gewinnen würde, aber immerhin in einer Flimmerkiste mit schlechtem Empfang RTL zu bieten hat. Alles wirkt ein wenig provisorisch. Mir wird bewusst, dass ich im Kosovo bin. Hier war vor 12 Jahren noch Krieg.
Am nächsten Morgen verrät der Blick aus dem Fenster, dass sich über den im Wiederaufbau befindlichen und den stehengebliebenen Häusern der Stadt ebenfalls die Berge erheben – dieses Mal von der anderen Seite betrachtet. Ich lasse mein Gepäck beim Portier, der die Stirn runzelt, mich aber doch irgendwie versteht, und erkunde die Stadt. Prizren liegt an einem Fluss, hat einige alte Brücken und viele sehenswerte muslimische Gotteshäuser wie z.B. die Sinan-Pascha-Moschee. Allerdings sind die meisten geschlossen und man muss sich auf Albanisch erkundigen, wann einem wer die Tür öffnen kann. Ich komme vorbei an einer ehemaligen orthodoxen Kirche, von der nur noch Ruinen stehen und die mit Stacheldraht umhüllt ist. In den Auseinandersetzungen der letzten zwei Jahrzehnte haben nicht nur die Kosovo-Albaner gelitten. Auch die Serben wurden vertrieben und ihre Häuser und Kirchen zerstört. Auf dem Weg zur Festung muss ich einen Hang hinauf, an dem sich leere Hausruinen an den Berg schmiegen. Ein vereister Weg führt zwischen den Häusern vorbei. Das ehemalige serbische Viertel liegt so da, als wäre das Feuer erst kürzlich erloschen. Hier wohnt niemand mehr.
Von der Festungsmauer aus kann man den Blick schweifen lassen über die Dächer der Stadt. Im Hintergrund der Gipfel des Gebirges, zu seine Füßen die kosovarische Ebene, in der die Stadt liegt. Das Bild ist geprägt von Minaretten und einigen neuen Plattenbauten am Stadtrand. Im Zentrum von Prizren lassen sich aus der Höhe noch die alten Straßenzüge ausmachen, die Überreste des osmanischen Basarviertels. Kleine, geduckte Häuschen stehen in einer dichten Reihe, wo vor Jahrhunderten die Gewürzhändler und Metzgerläden waren. Die halben Lämmer hängen noch heute beim Metzger, davor steht ein österreichischer Lieferwagen. An den größeren Plätzen stehen Denkmäler des Krieges und des Kampfes um die Unabhängigkeit. Die meisten Einwohner des Kosovo sind Albaner. Aber dennoch ist ein Anschluss des Kosovo an Albanien unwahrscheinlich. Der neu entstandene Staat braucht Denkmäler und Helden. Die Kosovaren sind auf der Suche nach Symbolen, nach ihrer Identität und schaffen sich ihre Helden selbst, indem sie überall im Land mit schwarzen Steintafeln an jene erinnern, die im Kampf gefallen sind. In Prizren befindet sich aber auch ein Haus, das an die Wichtigkeit des Kosovo für die albanische Nationalbewegung erinnert: Es ist das Haus der „Liga von Prizren“, die 1878 als Vereinigung albanischer Intelektueller gegründet wurde und das erste Zentrum des modernen albanischen Nationalismus wurde. Im Jahre 1999 von serbischen Freischärlern zerstört, wurde es wieder aufgebaut und dient heute als Museum. Auch dieses Haus ist eines der vielen neuen Wahrzeichen der Nation, die sich von Ex-Jugoslawien abgetrennt hat.

Eigentlich hatte ich vermutet, in Prizren ein bisschen mehr Militärpräsenz zu bemerken. Hier befindet sich ja nach wie vor das Hauptquartier der deutschen Truppen, die seit 1999 im Rahmen des KFOR-Einsatzes im Kosovo stationiert sind, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Ich entdecke jedoch keinen einzigen Soldaten. Nur einmal fährt ein gepanzerter Truppentransporter durch die Stadt. Schnell und leise – man will nicht zu sehr auffallen, hat man als Beobachter das Gefühl. Die Stadt mit ihren Menschen hat zurückgefunden zum Alltag. Außer an Orten im Nordkosovo, wo es ab und zu Zusammenstöße zwischen Serben und Kosovo-Albanern gibt, bleibt die KFOR im Hintergrund.
Beim Mittagessen am Hauptplatz des Altstadtviertels kommen einige bettelnde Kinder und Zigarettenverkäufer vorbei, die der Kellner des kleinen Restaurants schnell vertreibt. Ich esse Qebapa (hier bekannt als Ćevapčići) für einen unerhört günstigen Preis. Dann mache ich mich zurück ins Motel, um die Weiterreise anzutreten in die Hauptstadt des neuen Staates: Prishtina.

Die Fahrt geht dieses Mal vorbei am österreichischen KFOR-Hauptquartier, sodass ich doch noch eine Spur von Brisanz erfahre. Aus der Stadt hinaus, durch kleinere Ortschaften kurvt der Bus. Mit den Sommerhits von letztem Jahr durchs Kosovo. Da kommt gute Laune auf. Draußen, am Eingang eines Wäldchens, steht ein Schild mit der Aufschrift „Achtung Minen!“. Immer wieder wird einem bewusst wo man ist. Eine Gedenkstelle folgt auf die andere.
Obwohl Prizren um einiges sehenswerter ist als die Hauptstadt des Kosovo loht sich ein Ausflug nach Prishtina dennoch. Eine belebte Fußgängerzone, viele angesagte Bars und Cafés. In der Stadt begegnen mir zwei deutsche Soldaten, die ihre Freizeit in der Fußgängerzone und den Bars verbringen, sich von ihren albanischen Freundinnen verabschieden und dann gemütlich den Weg zurück zu ihrer Basis gehen. Prishtina ist kein typisches Ziel für Touristen. Doch hier befindet sich die UNMIK, eine internationale Organisation, die 1999 mit der Bildung administrativer Strukturen und eines funktionierenden Staates beauftragt wurde. Allerdings gibt es hier nichts zu sehen. Eindrucksvoller, wenngleich erschütternd, ist der Zaun vor dem Gebäude der Stadtverwaltung. Hier hängen die Fotos derer, die noch vermisst werden, die in dem ganzen Konflikt irgendwann einfach verschwanden und vermutlich schon lange tot sind. In Klarsichtfolien, geschützt vor der Witterung, aber nach über 10 Jahren doch vergilbt und verblasst sind die Bilder der Männer, Frauen und Kinder, an denen tagtäglich hunderte Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit vorbeigehen.


Das Kosovo fasziniert durch die Balance von Fremdheit und Vertrautem. Wie selbstverständlich bezahlt man hier in Euro. Entlang der Landstraße, die aus Prishtina hinausführt, liegen die Hallen deutscher Unternehmen und mitteleuropäische Firmen, die sich hier einen neuen Markt gesucht haben. Tankstellen, die „bleifrei“ anbieten. Neben ihnen stehen Friedhöfe des Krieges, überflutet vom Tauwasser des März. Ich mache einen Ausflug nach Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens, die mit dem Bus nur etwa zweieineinhalb Stunden von Prishtina entfernt liegt. Bei der Rückkehr kontrolliert ein Kosovare die Pässe und sagt „Schönnguttntag, sind Sie bei uns beschäftigt?“ Ich bin überrascht und sage, dass ich nur Tourist sei. Mein Vordermann kommt aus Mazedonien und dreht sich später zu mir um. Was ich hier täte, fragt er. Ich sei der erste Tourist, den er im Kosovo sehe. Es sei doch noch Krieg.
Zurück in Prishtina erzählt mir ein Taxifahrer, dass er acht Jahre in Deutschland gelebt habe. Sein 18jähriger Sohn könne noch gut Deutsch, die Tochter würde in der Schule aber nur noch Englisch lernen. Im Kosovo treffe ich auf erstaunlich viele Menschen, die meine Sprache sprechen. Und auch hier sind die Menschen zuvorkommend, hilfsbereit und freundlich. Sie sind stolz auf ihre deutschen Autos. Dieser Stolz greift auf mich über, wenn ich sehe, was diese Autos tagtäglich auf den mit Schlaglöchern übersäten Straßen leisten. Für die deutschen Autos gäbe es genügend Ersatzteile, erzählt mir der Taxifahrer. Für die japanischen nicht. Es ist verrückt. Man wird als Deutscher von Menschen willkommengeheißen, die selbst jahrelang in Deutschland lebt und gearbeitet haben und wahrscheinlich in den seltensten Fällen willkommen waren. Jetzt sind viele von ihnen wieder zurück in der alten Heimat und bauen ihr Land auf. Das Kosovo ist im Aufbruch, auch wenn es hier nicht sehr hektisch zugeht. Die Häuser sind größtenteils wieder aufgebaut, eine Infrastruktur besteht und funktioniert. Europa kann kommen.